von Aktion Deutschland Hilft
Hundeführerin Tamara Reiher war nach den schweren Erdbeben in der Türkei im Einsatz. Als Helferin des Bundesverband Rettungshunde e.V. (BRH) zählte sie zu einem 42-köpfigen Team, das mit I.S.A.R. Germany vor Ort geholfen hat.
Im Interview berichtet die 32-Jährige von der einwöchigen Suche nach Vermissten und ihrer ehrenamtlichen Arbeit mit ihrer neunjährigen Hündin Mayuma.
Aktion Deutschland Hilft: Frau Reiher, Sie sind ehrenamtlich für unsere Bündnisorganisation Bundesverband Rettungshunde (BRH) tätig. Was hat Sie zu diesem Ehrenamt geführt?
Tamara Reiher: Ich war schon als Jugendliche mit zwölf Jahren beim THW in der Jugendgruppe. Damals gab es eine Veranstaltung, bei der sich mehrere Ehrenämter vorgestellt haben. Dabei habe ich die Rettungshunde gesehen. Da hat sich in mir alles zusammen gezogen und ich wusste: Wenn ich einen Hund habe, möchte ich genau das machen. Mit 16 hat mir meine Mutter den Wunsch nach einem Hund erfüllt und ich bin in den BRH gewechselt, um Rettungshundearbeit zu machen.
Wie sah dann die Ausbildung aus?
Die Ausbildung verläuft dual: Sowohl Hund als auch Hundeführer werden ausgebildet. Der Hundeführer muss Erste Hilfe am Menschen und am Hund leisten können, mit Karte und Kompass umgehen, also sich orientieren können und sich Wissen zu Thermik, Kynologie (Lehre vom Hund) und anderen Themen als Hundeführer aneignen.
Parallel lernt der Hund: Dass es sich lohnt, Menschen zu suchen, dass der Wind die Information trägt, wie man mit hoher Nase diesen Geruch filtert und verfolgt und letztlich wie man die Person anzeigt, also das Bellen. Die Ausbildung dauert zwei bis drei Jahre. Ich war passenderweise 18 Jahre alt, als der Hund geprüft war und konnte direkt in den Einsatz. Aktuell trainiere ich innerhalb der BRH-Staffel zweimal wöchentlich und als Hundeführerin bei I.S.A.R. Germany jeden Monat ein Wochenende von Freitag bis Sonntag.
Bei welchen Einsätzen sind Sie tätig?
Wir sind im Flächeneinsatz und im Trümmereinsatz tätig. Die Flächeneinsätze sind vorwiegend hier in Deutschland. Diese Einsätze finden beispielsweise in Waldgebieten statt mit der Suche nach Demenzkranken, Alzheimerpatienten, suizidgefährdeten Personen, sowie Kindern, die nicht nach Hause gekommen sind. Wir suchen also jeden, der hilflos ist und vermisst wird.
Trümmereinsätze finden in Deutschland selten statt. Beispiele wären Gasexplosionen, der Einsturz des Kölner Stadtarchivs und natürlich auch das Hochwasser im Ahrtal. Und zuletzt der Einsatz in der Türkei auf internationaler Ebene.
Wie häufig werden Sie zu Einsätzen gerufen?
Wir haben im Schnitt etwa alle zwei Wochen einen Einsatz. Vorwiegend natürlich in Deutschland. Das Erdbeben in der Türkei war mein erster Einsatz im Ausland.
Welche Voraussetzungen muss ein Rettungshund erfüllen?
Die Hunde müssen triebstark und motiviert sein. Sie sollten auch eine gewisse Härte äußeren Einflüssen gegenüber haben, denn ein Einsatz ist kein Spaziergang. Ein Hund, der gern auf die Couch möchte, wäre hier an der falschen Stelle.
Ein Rettungshund muss auf Knopfdruck arbeiten wollen und umweltsicher sein. Unsere Rettungshunde sind wie Leistungssportler, jedoch wissen sie nicht, wann ihr Wettkampf stattfindet. Sie müssen also zu jedem Zeitpunkt die Leistung bringen können. Kondition ist da sehr wichtig. Das kann nicht jeder Hund.
Wie muss man sich diese Umstände im Einsatzfall vorstellen?
Bei dem Erdbeben in der Türkei mussten die Hunde zunächst einmal den Flug bewältigen. Nach der Landung haben die Hunde auf dem Rollfeld ihr Futter bekommen, während das Team den LKW beladen hat, dabei starteten und landeten Flugzeuge neben uns. Die Hunde haben Tag und Nacht gearbeitet. Gerade bei einem Ausmaß wie dem in der Türkei müssen die Hunde gewandt sein und ein gutes Körpergefühl haben, da sie über scharfe Kanten und hohe Absätze laufen müssen. Die Trümmerberge sind zehn bis 20 Meter hoch, das ist natürlich auch gefährlich.
Wie nah sind Sie dem Hund in diesem Augenblick?
Die Hunde sind im Nahbereich bei den Hundeführern, weil sie aufmerksam beobachtet werden müssen. Hat das Tier die Nase zweimal in die Trümmer gehalten und auffällig reagiert, und ist das ggf. als Signal zu werten? Diese Trümmerstrukturen im Einsatz waren so tief, verworren und komplex, dass der Hund teilweise nur kleinste Partikel von Geruch wahrnehmen konnte. Wir arbeiten mit einem Kontrollsystem, also jede Schadensstelle wird von mindestens zwei Hunden abgesucht.
Die Reaktion des Hundes können wir also nur wahrnehmen, wenn wir uns nah bei ihm bewegen. Wenn der Hund dann in ein Loch springt, müssen wir darauf vertrauen, dass er alle Fertigkeiten hat, um dort alleine wieder herauszukommen.
Wann kam der Notruf für den Einsatz in die Türkei?
In den frühen Morgenstunden hat meine App Alarm geschlagen und das Erdbeben angezeigt. Ich wusste sofort, dass es nicht bei dem Alarm bleibt. Die Taschen von mir und meinem Mann, der auch bei I.S.A.R. Germany ist, sind für den Einsatzfall immer gepackt. Es besteht aus dem CARGO Gepäck, also ein Ziehkoffer mit Schlafsäcken und Wechselkleidung, außerdem das Daypack aus dem wir leben müssen, wenn das andere Gepäck länger braucht. Dazu zählen dann Hundefutter, Snacks, Batterien, Taschenlampen und andere Kleinigkeiten.
Was ist für das Bergungsteam zu tun, bis es im Schadensgebiet eintrifft?
Wir mussten mit dem Team in Hünxe das Material aus unserem Lager auf einen LKW hieven und zum Köln-Bonner Flughafen bringen. Nachdem wir dann den Slot für die Starterlaubnis erhalten haben, konnten wir am Abend losfliegen. Morgens um 4 Uhr waren wir am Flughafen Gaziantep. Das Umladen von Flugzeug und LKW ging dann sehr schnell, weil die Transportmittel durch I.S.A.R. Turkey, unserem Kooperationspartner vor Ort, bereits organisiert waren. Nur zwei Stunden später waren wir in Hatay-Kirikhan.
Die Suche und Bergung konnte also direkt beginnen?
Richtig. Wir waren das erste internationale Team vor Ort. Wir haben schon 30 Stunden nach dem Erdbeben die erste lebende Person gerettet. Das ist wirklich schnell.
Wie groß war das Team, mit dem Sie in die Türkei geflogen sind?
Wir sind mit 42 Personen und sieben Hunden in den Einsatz geflogen. Mit dabei waren Bergungsspezialisten, sieben Hundeführer, eine Tierärztin, sechs Ärzte, Logistiker, das Managementteam, Intensivfachkräfte und Notfallsanitäter, unsere Küchencrew und Schadensplatz- und Baufachberater. Letztere können beurteilen, ob Häuser noch bewohnbar sind und wo wir uns auf den Trümmern entlang bewegen können bzw. welche Wände im Zweifel abgestützt werden müssen.
Wie lange war der Einsatz und wie war das Team organisiert?
Wir sind am 6. Februar angekommen und am 13. Februar wieder geflogen. Gearbeitet haben wir in zwei Zügen, der Tag- und der Nachschicht von acht bis 20 Uhr und von 20 Uhr bis wieder acht Uhr morgens. Ich habe nachts gearbeitet und tagsüber geschlafen. Die erste Einsatzstelle war der Ort, an dem uns bereits Lebenszeichen einer Person von I.S.A.R. Turkey gemeldet wurden.
Wie geht die Bergung dann vonstatten?
Die Hunde, auch biologische Ortung genannt, suchen die Trümmer nach Verschütteten ab. Haben sie einen Menschen durch Bellen angezeigt, werden sie durch die technische Ortung unterstützt. Eine Teleskopkamera und andere Geräte helfen, eine Person zu lokalisieren. Wie liegt die Person und wie kommen wir an sie heran? Danach leiten wir die Bergung ein. Die Bergungsspezialisten geben den Weg vor.
Entweder suchen wir Hundeführer parallel noch andere Baustellen ab oder wir gehen an die Maschinen und helfen bei der Bergung, stemmen den Beton weg, unterstützen die anderen Helferinnen und Helfer. Man hat nie nur eine Aufgabe. Jeder muss vielschichtige Aufgaben übernehmen können.
Gibt es ein Zeitfenster für die Rettung von verschütteten Menschen?
Wenn man von klassisch Verschütteten spricht, hat man in etwa ein Zeitfenster von 72 Stunden. Alles, was darüber hinaus geht, ist auch möglich, dann muss die verschüttete Person aber mindestens Zugang zu Wasser haben und sich etwas bewegen können. Wenn die Person einigermaßen unverletzt ist, in einem Hohlraum liegt, dann auch noch Nahrung hat, ist ein Wunder zehn Tage nach einem Erdbeben möglich.
War Ihnen das Zeitfenster während Ihres Einsatzes bewusst?
Nein, ich hatte kein Zeitgefühl und wusste nicht, wie spät es ist. Das einzige in meinem Kopf war: Baustelle abarbeiten und zur nächsten Schadensstelle. Irgendwann gibt es Essen, aber es gibt kein Hungergefühl. Man ist nur noch da, um zu arbeiten. Ein Ort, in dem 150.000 Menschen gelebt haben und unser Team, das mit 42 Personen versucht, alles Lebende zu retten. Es ist unrealistisch, die ganze Stadt abzuarbeiten, aber man versucht so effizient zu arbeiten, wie es geht. Unsere Teamleader kümmern sich darum, dass Rahmenbedingungen eingehalten werden wie essen, trinken, Schlaf und Schichtwechsel.
Gibt es in der Zeit auch die Möglichkeit, innezuhalten?
Mindestens einmal am Tag kommen pro Schicht alle zusammen. So haben wir kurz einen Blick auf alle Helferinnen und Helfer. Es wird geschaut, ob es allen gut geht. Mit dabei sind auch Notfallseelsorger, da unsere Ärzte in dem Bereich geschult sind.
Es war Ihr Team, das die verschüttete Zeynep befreien konnte, die wenig später verstarb. Ein Fall, der in den Medien bekannt wurde. Wie haben Sie die Bergung erlebt?
Die Trümmer, in denen Zeynep gefunden wurde, waren zuvor ein Gebäude, in dem Erzählungen nach circa 40 Menschen gelebt haben. Zwei von ihnen konnten wir lebend aus den Trümmern befreien. Zeynep war über 100 Stunden verschüttet. Wir haben fast 60 Stunden gebraucht, um sie zu bergen.
Als es möglich war, konnten wir sie über einen kleinen Versorgungsschacht mit Flüssigkeit stabilisieren. Wir haben dazu aus einem Infusionsschlauch einen langen Strohhalm gebastelt und über eine Art Angel zu ihr geführt. Über diesen Schacht haben ich und meine Kameraden auch mit ihr sprechen können. Mein Türkisch ist nicht mehr so gut, doch zum Trösten und Mut machen hat es gereicht. Die Worte, die Zeynep zu mir sagte, werde ich nie vergessen: ‚Sag denen da oben: Ich vertraue euch‘, gemeint war die Bergungsgruppe, die sich zu ihr vorarbeitete.
In der Zeit der Bergung hatten wir Kontakt zu Zeyneps Familie, die Tag und Nacht am Feuer vor den Trümmern saß und gebetet hat. Zeyneps Rettung war für uns alle eine große Erleichterung.
Als uns im Teammeeting verkündet wurde, dass sie in der Nacht nach der Bergung im Krankenhaus gestorben ist, hat uns das tief getroffen. Doch wir sind professionell und gut geschult, jeder von uns weiß, dass die 48 Stunden nach einer solchen Rettung relevant sind.
Wie haben Sie den Tag der Abfahrt in Erinnerung? Wann war für Sie klar, dass Sie den letzten Handschlag tun?
Wir haben am Tag zuvor gesagt bekommen, dass wir abreisen werden und dann schon einmal die groben Sachen zusammengepackt. Bei der Abfahrt am frühen Morgen war die Sonne noch nicht aufgegangen. Wir sind im Sonnenaufgang schließlich von Hatay-Kırıkhan nach Gaziantep gefahren und haben dann erst einmal Zeit am Flughafen verbracht, um unser Gepäck über den Zoll zu bringen und das Flugzeug zu beladen. Auf dem Flug hat uns dann langsam gedämmert, was in Deutschland los ist. Da haben wir erfahren, dass am Flughafen viele Leute auf uns warten.
Sie wurden von zahlreichen dankbaren Menschen begrüßt ...
Hunderte Menschen haben gejubelt und geklatscht. Die Leute sind uns weinend in die Arme gefallen und haben uns gedankt, dass wir ihren Landsleuten geholfen haben. Das war intensiv und damit haben wir nicht gerechnet. Wir sehen uns nicht als Helden. Wir machen dieses Ehrenamt einfach schon so lange, es ist für uns eine Selbstverständlichkeit.
Wie war es für Sie, zurück in den Alltag zu finden?
Man braucht schon zwei Wochen, um zurückzufinden. Ich musste wieder Empathie für die lächerlich kleinen Probleme bekommen, die die Menschen hier für große Dramen halten. Das braucht Zeit, weil man gesehen hat, wie es woanders ist. Aber das ist normal. Das hat mir jeder bestätigt. Die Zeit des Einsatzes ist der gleiche Zeitumfang, den man wieder zum Ankommen benötigt.
Wir hatten eine große Einsatz-Nachbesprechung mit Seelsorgeteams. Wir haben in großer Runde gesprochen und Gott sei Dank geht es allen gut. Dennoch möchte ich mein Mitgefühl für alle Betroffenen der Erdbebenkatastrophe aussprechen.
Gibt es etwas, das Sie fachlich aus dem Einsatz mitnehmen?
Wir haben bereits sehr gut ausgebildete Hunde und können nur noch an feinen Schrauben drehen. Trotzdem sollten wir auf die feinen Schrauben achten, damit wir in der Ausbildung nicht stagnieren. Wir werden die Erkenntnisse aus diesem Einsatz nutzen, um noch besser zu werden.
+++ Spendenaufruf +++
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