Gyde Jensen, Vorsitzende des Ausschusses für Humanitäre Hilfe und Menschenrechte, spricht im Interview zu den bevorstehenden Herausforderungen Deutschlands in der humanitären Hilfe.
Aktion Deutschland Hilft: Welche Themen sehen Sie mit hoher Priorität auf der politischen Agenda des Ausschusses, wenn die neue Bundesregierung ihre Arbeit aufnimmt?
Gyde Jensen: Ich befürchte leider, dass die großen humanitären Krisen in Syrien, im Jemen, in Äthiopien und in der Sahel-Zone den Ausschuss auch in der nächsten Legislatur beschäftigen werden. Das sind Krisen- und Kriegsregionen, die erst zur Ruhe kommen, wenn sie politisch gelöst sind.
Deshalb ist es so wichtig, dass sich der Ausschuss auch mit der menschenrechtlichen Komponente und damit mit den politischen und juristischen Aspekten dieser humanitären Krisen beschäftigt. Außerdem wird der Ausschuss auch in der kommenden Legislatur die Umsetzung der Ziele des Grand Bargain begleiten. Dazu gehört auch die Forderung, dass sich die Bundesregierung ambitioniertere Ziele setzt.
Weltweit haben Armut, Hunger und Ungleichheit durch die Corona-Pandemie zugenommen. Was ist jetzt notwendig, um die Rückschläge wieder aufzuholen?
Wir dürfen diese massiven Rückschläge schlicht und ergreifend nicht hinnehmen. Ich wünsche mir, dass wir uns als internationale Gemeinschaft spätestens im Herbst zusammensetzen und neue Meilensteine definieren, wie wir die international vereinbarten Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) erreichen und zusätzlich bereits an deren Weiterentwicklung arbeiten können. Deutschland sollte hier gemeinsam mit den USA die Initiative ergreifen.
Trotz globaler Klimakrise und Zunahme von Extremwetterereignissen fließt bisher nur ein kleiner Anteil des Bundeshaushaltes in weltweite Vorsorgeprojekte. Wie kann Katastrophenvorsorge strukturell ein fester Bestandteil humanitärer Hilfe werden?
Erstens, indem wir mehr flexible Mittel in der humanitären Hilfe zur Verfügung stellen. Im Kern geht es darum, dass wir als Geberländer sagen: Wir vertrauen den Menschen, den Organisationen vor Ort, dass sie am besten wissen, wo Gelder eingesetzt werden müssen. Vor allem wenn es um Prävention geht, funktionieren keine Standardlösungen.
Vorsorgeprojekte müssen zu den Menschen, zur Region, zur Lage und zum Problem passen. Das kann man nicht aus dem Auswärtigen Amt oder dem BMZ steuern. Dieses Vertrauen in die Empfänger von Hilfszahlungen kann Krisen verhindern und Leben retten.
Zweitens sollten wir vorausschauende humanitäre Hilfe zu einem festen Baustein machen – bei diesem Ansatz spielt die Katastrophenvorsorge eine entscheidende Rolle. Nach wie vor ist die humanitäre Hilfe allerdings leider hauptsächlich reaktiv konzipiert.
Deutschland ist in den letzten Jahren zum zweitgrößten Geber in der internationalen humanitären Hilfe avanciert. Wie sehen Sie die Rolle Deutschlands in der Zukunft?
Deutschland erfüllt als größte Volkswirtschaft der EU seine humanitäre Verantwortung und das muss auch so bleiben. Als zweitgrößtes Geberland sollte Deutschland allerdings auch mehr politische Verantwortung dafür übernehmen, dass unser multilaterales Gebersystem erfolgreich funktioniert. Etwa, wenn es um die diplomatische Verzahnung der internationalen Katastrophenhilfe geht.
Beispiele dafür sind humanitäre Zugänge zu Kriegs- und Krisengebieten, aber auch die Berücksichtigung der humanitären Versorgung, wenn die internationale Gemeinschaft Sanktionsmaßnahmen verhängt. Mehr politische Verantwortung übernehmen heißt auch, für das multilaterale Gebersystem in der humanitären Hilfe zu werben.
Länder wie die Volksrepublik China, die derzeit hauptsächlich außerhalb des multilateralen Systems aktiv sind – auch um sich selbst außenpolitisch Loyalitäten und Gegenleistungen zu kaufen – sollten immer wieder aufgefordert werden, sich in das Gebersystem zu integrieren.
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