von Fritz Schumann, Nominierter des Journalistenwettbewerbs
In meiner Arbeit als Fotojournalist habe ich oft feststellen müssen, dass Krisengebiete schnell aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwinden – selbst wenn der Konflikt noch lange nicht gelöst ist. Ich hatte mich bei Aktion Deutschland Hilft beworben, um einen Blick auf ein Land zu werfen, das von den Medien vergessen wurde. Das Los entschied dann, dass ich in den Libanon fliege.
Ich hatte zunächst Bedenken. Meine Familie hatte Bedenken. Ach, eigentlich alle, mit denen ich darüber gesprochen habe, hatten Bedenken. Dann explodierte auch noch knapp drei Wochen vor meiner Abreise eine Bombe in Beirut. Doch gerade in einer derartigen Situation darf man die Aufmerksamkeit nicht von einem Land abwenden. Anfang Dezember bin ich deshalb nach Beirut geflogen.
Land und Lager
Im Libanon kommen auf vier Millionen Einwohner knapp zwei Millionen Flüchtlinge. Zu den 300.000 Palästinensern, die teilweise schon seit 1948 hier sind, kamen in den letzten Jahrzehnten viele Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien. Das größten Flüchtlingslager im Libanon, das Lager Ein el-Hilweh, in welchem ich ankam, beherbergt ungefähr 100.000 Menschen auf nur einem Quadratkilometer.
Kurz nach meiner Ankunft lernte ich die Partnerorganisation der Johanniter im Libanon kennenlernen: Naba'a setzt sich seit 15 Jahren für die palästinensischen Flüchtlinge ein. Fast alle Mitarbeiter sind selbst Palästinenser und wohnen teilweise noch in Flüchtlingslagern. Sie kümmern sich um Familien und betreiben Bildungsprojekte. Naba'a hat mich bei meiner Arbeit unterstützt und jeden Tag begleitet.
Ich war bei einer Verteilungsaktion von Naba'a dabei, bei der Matratzen und Decken für den Winter an 600 Familien ausgegeben wurden. Wer wie viele Hilfsgüter bekommt, wurde zuvor schon anhand der Bestände in den Wohnungen entschieden. Daher ging es bei der Verteilung auch sehr ruhig und friedlich zu. Wer mit dem Auto kam, nahm meist noch für andere Familien aus dem Camp Hilfsgüter mit. Manchmal wurden vier, fünf oder sechs Matratzen auf ein Auto gebunden.
Familie auf der Flucht
Die Straßen in Ein el-Hilweh sind eng und staubig. Über den Köpfen schweben hunderte von losen Stromkabeln, die eine Gefahr für die Kinder darstellen. In den Wohnungen, die aus Beton und Ziegelsteinen erbaut und immer wieder notdürftig um neue Stockwerke ergänzt worden sind, gibt es keine Heizungen und kein Telefon. Und trotzdem fand ich hier Familien, die glücklich sind.
Eine ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: Großmutter Anmeh wurde 1926 geboren – so steht es zumindest in ihrem Ausweis. Sie selbst und ihre ganze Familie geben aber an, dass sie noch viel älter sein müsse. 1948 floh sie aus ihrer Heimat Palästina. Vier ihrer fünf Kinder starben auf der Flucht. Nach einem Jahr, welches sie in diversen Lagern im Libanon verbrachte, kam sie in Ein el-Hilweh an.
Heute ist Anmehs Familie riesig - vier Generationen leben gemeinsam mit ihr unter einem Dach. Die Familie zählt heute 77 Mitglieder, die meisten davon leben hier im Camp. Sie wären heute alle nicht hier, wäre Anmeh nicht 1948 geflohen. Die Liebe der Familienmitglieder zueinander und zur Großmutter war für mich deutlich spürbar. Man besitzt im Lager nicht viel, aber man hat einander.
Für mich ist das ein schönes Beispiel für eine Geschichte, die man nur findet, wenn man geduldig zuhört– und sich nicht mit einer schnellen Meldung aus der Krise zufrieden gibt. Ich bin dankbar dafür, dass ich Anmeh treffen konnte und ihr zuhören durfte.