Krieg, Gewalt, Todesangst: Viele geflüchtete Frauen haben in ihren Heimatländern und auf der Flucht nach Deutschland Schreckliches erlebt. Nach ihrer Ankunft sitzt die Vergangenheit tief. Doch Gespräche mit psychologisch geschulten Expertinnen und Experten können ihnen Kraft und Orientierung zurückgeben. Das von der ZWST ins Leben gerufene Projekt „Brückenbau – Vielfalt begegnen!“ bietet diese Unterstützung an – und hilft geflüchteten Frauen, wieder mehr an die Zukunft als an die Vergangenheit zu denken.
Plötzlich ein Knall. Es ist ein Ballon, der platzt. Mit ihm die Worte: „Vermissen – Angst vor Verlust“. Der Ballon stammt von Rana Qader, einer 37-jährigen Frau aus dem Irak. Mit einem schwarzen Stift hat sie diese Worte darauf geschrieben, denn in der vergangenen Nacht quälte sie ein Gedanke: „Immer wieder dachte ich an meinen Bruder und an meine zwei Schwestern. Sie sind noch im Irak. Und die IS-Truppen rücken näher.“ Mit einer kleinen Nadel hat sie den Ballon platzen lassen und – zumindest für einen kurzen Moment – ihre Angst in Luft aufgelöst.
Symbolische Gesten, die befreien
Die Sorgen um ihre Familie werden wiederkehren. „Aber“, sagt der Traumaexperte Nadim Ghanayem, „es ist hilfreich, symbolische Gesten zu finden, damit sich Betroffene von ihren Sorgen lösen können.“ Der 36-jährige hat etwa anderthalb Stunden mit Rana Qader und drei weiteren Frauen über deren Ängste gesprochen. Mit seiner 32 Jahre alten Ehefrau Tharir Ghanayem, die als Sozialarbeiterin arbeitet, hat er die Betroffenen bestärkt, positive Gedanken zu entwickeln und sich von negativen Gedanken zu trennen.
Seit Mai 2016 sind Nadim und Tahrir Ghanayem in einer Gemeinschaftsunterkunft der Arbeiterwohlfahrt (AWO) für geflüchtete Menschen im Stadtteil Unterliederbach in Frankfurt am Main tätig. Sie sind Teil des Projekts „Brückenbau – Vielfalt begegnen“. In Kooperation mit der AWO bietet die Initiative seit Mai 2016 psychosoziale Hilfe für traumatisierte Frauen und Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt in Frankfurt an. Das Projekt wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration finanziert und greift auf personelle Ressourcen der israelischen Hilfsorganisation „IsraAid“ zurück.
Zwei Israelis in arabischer Gesellschaft
Nadim und Tahrir Ghanayem gehören IsraAid an. Sie arbeiten 40 Stunden pro Woche in der Frankfurter Flüchtlingsunterkunft, sprechen Arabisch und können ohne sprachliche Barriere mit den Bewohnerinnen und Bewohnern in Kontakt treten. Dennoch war es anfangs schwer, ins Gespräch zu kommen, erinnert sich Nadim Ghanayem: „Wir sind aus Israel. Wegen des Nahost-Konflikts ist das Verhältnis zwischen Arabern und Israelis belastet.“ Diese Spannung, so der 36-Jährige, sei jedoch beabsichtigt: „Wir wollen Menschen auf dem Weg in ein neues Land motivieren, sich für eine neue Kultur und eine neue Lebenswelt zu öffnen. Und Offenheit uns gegenüber ist ein erster Schritt.“
In seinem Heimatland Israel hat Nadim Ghanayem Psychologie studiert. Der 36-Jährige hat bereits als Trauma-Therapeut gearbeitet und konzentriert sich heute auf die Vermittlung von Methoden zur psychischen Bewältigung sexueller Gewalt. Seine Ehefrau Tahrir hat sich auf soziale Arbeit spezialisiert. In der Gemeinschaftsunterkunft in Frankfurt bieten beide etwa 80 Menschen psychologische Hilfe an. Ein Glücksfall für die Bewohnerinnen und Bewohner, denn Expertinnen und Experten mit diesen Kompetenzen stehen ihnen jeden Tag zur Verfügung.
Wenn Ängste täuschen
Die Begleitung traumatisierter Frauen steht für das Team von IsraAid im Mittelpunkt. So oft es geht, verabreden sie persönliche Treffen, beispielsweise therapeutisch begleitete Einzelgespräche. Viele geflüchtete Frauen, erzählt Nadim Ghanayem, würden einen Missbrauch durch einen Mann stärker fürchten als den Tod. „Diese Angst ist weit verbreitet. Im Krieg und auf der Flucht haben sie Missbrauch in vielen Fällen erlebt – oder davon gehört.“
In den Gesprächen geben die Expertinnen und Experten den Betroffenen die Chance, ihre Ängste zu hinterfragen und sich intensiver mit ihren Gefühlen zu beschäftigen. Weniger sprechen sie über das, wovor sie sich fürchten als über den Umgang mit ihrer Angst. „Dadurch gelingt es ihnen, Ängste zu relativieren und Gefahren realistischer einzuschätzen. Es ist eben ‚nur‘ ein Gefühl“, so Nadim Ghanayem.
Psychische Reserven freisetzen
Zum Angebot der IsraAid-Helferinnen und Helfer gehören auch Gruppensitzungen. Einmal in der Woche treffen sie sich für etwa anderthalb Stunden mit vier bis fünf Frauen. Um ihre psychischen Ressourcen zu stärken, wenden sie Empowerment-Methoden an. Das Aufschreiben von Sorgen und das Zerplatzen von Ballons gehören dazu. „Durch gemeinsame Aktionen wie diese entsteht das Gefühl, dass die Betroffenen nicht allein sind. Und sie spüren, dass durch das Ritual Kraft entsteht“, sagt der Traumaexperte.
Das Gefühl, in Deutschland auf sich allein gestellt zu sein und nicht weiterzuwissen – auch das lastet auf den Schultern vieler Frauen. „Eine neue Sprache, ein neues Land und neue Werte: All das erscheint wie eine unüberwindbare Hürde“, sagt Tahrir Ghanayem. Doch gegen diese Zweifel setzen die IsraAid-Helferinnen und Helfer einen Gedanken. Immer wieder machen sie den Betroffenen klar: „Auch wenn ihr euch machtlos und mittellos fühlt, ihr habt etwas erreicht – nämlich eine erfolgreiche Flucht.“ Wer diese Energie aufbringen würde, sagt Tharir Ghanayem weiter, könne sich auch den Herausforderungen in einem neuen Land stellen.
Flucht mit zwei Kindern
Wie viel Energie allein die Flucht kostet, zeigt Loureen Ibrahim. Die 30-jährige Syrerin ist alleine mit ihren zwei Kindern nach Deutschland geflohen. „Mein Mann starb 2015 bei einem Bombenangriff in Syrien “, berichtet sie. Als der Krieg näher kam, wollte sie mit ihrer Tochter und ihrem Sohn nach Deutschland fliehen. Der Weg führte über das Mittelmeer. Das Boot, in dem sie saßen, war überladen und kenterte. Loureen Ibrahim rettete ihre Familie. Trotz der Gefahren, erzählt sie, habe sie auf dem Weg nach Deutschland nie am Gelingen der Flucht gezweifelt.
Heute wohnt Loureen Ibrahim mit ihren Kindern in der Gemeinschaftsunterkunft in Unterliederbach. Die Unterstützung und die Orientierung, die Nadim und Tahrir Ghanayem ihr bieten, seien wertvoll. „Sie geben uns nicht nur mentale Kraft. Sie helfen uns auch bei Arztbesuchen, bei der Wohnungssuche oder bei der Wahl meines Studiums. Sie sind immer für uns da.“ Auf ihren Ballon hat Loureen Ibrahim das Wort „Ärger“ geschrieben. Gemeint ist – ganz im Gegensatz zu ihrer Wertschätzung gegenüber Nadim und Tahrir Ghanayem – ihre Wut auf Menschen, die andere Menschen quälen. Sie lässt das Gefühl zerplatzen. Vielleicht wird es bald ganz verschwinden.
Das Programm konnte noch ausgeweitet werden: Seit Dezember 2016 unterstützt das Team von IsraAID auch Flüchtlinge in einer Unterkunft der Johanniter (Regionalverband Rhein-Main) in Frankfurt/Main.
Text: www.integrationsbeauftragte.de
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