Noch bewegt sich das kleine Bündel, das Norman McDonald in seinem Arm hält. Ab und zu befreit sich sogar eines der schwarzen Beinchen aus dem Leinentuch, zappelt wild umher, bis es der 56-Jährige wieder behutsam zugedeckt hat. Auch Geräusche dringen aus dem Knäuel. Ein Glucksen. Ein Schmatzen.
Hin und wieder aber auch ein langes, erschöpftes Schluchzen, als ob dieses Bündel, in dem die zweijährige Tatenda steckt, noch etwas mitzuteilen hätte, bevor sich nichts mehr regt, es plötzlich still wird und das eben noch lebendige Beinchen nun schlaff auf dem Oberarm des Ziehvaters ruht. In Simbabwe ist der Tod ein Dauergast. Tatenda holte er sich zur Mittagszeit.
Diese kurze, so unerwartete und niederschmetternde Szene ist nichts Ungewöhnliches in dem einstigen Vorzeigeland Afrikas. Mit Robert Mugabe an der Spitze, dem Ex-Freiheitskämpfer, der das ehemalige Rhodesien in die Unabhängigkeit führte, anschließend Korruption und Vetternwirtschaft bekämpfte und letztendlich doch lernte, diese beiden Fallgruben jeder funktionierenden Demokratie für sich zu kultivieren.
"Eigentlich wollten wir zu unseren Töchtern nach Kapstadt, statt hier täglich um unser Leben zu fürchten", sagt McDonald, nachdem er Tatenda dem Bestatter übergeben hat. Bis vor gut einem Jahr war der gebürtige Südafrikaner, das was in Simbabwe als Großfarmer gilt. 2000 Hektar Land, die Größe von 2000 Fußballfeldern, hatte er zu bewirtschaften.
Im Auftrag der katholischen Kirche, der das Gut gehörte, betrieben McDonald und seine Frau Sybil Rinderzucht. Sieben Jahre lang. Etwa 150 Kilometer von Harare entfernt, der Hauptstadt Simbabwes, doch leider in Sichtnähe von Mugabes Wochenendresidenz. Genau das wurde den McDonalds zum Schicksal.
"Eines Abends stand ein bewaffneter Mann vor der Tür und riet uns, die Farm zu verlassen. Ansonsten würden wir den nächsten Morgen nicht mehr erleben", erinnert sich Sybil an die Nacht vor Allerheiligen 2001. Selbst ihre guten Kontakte zu den Geschwistern Mugabes, Sabine und Donato, nützten nichts. Für ihr Leben konnten beide nicht garantieren.
Es spielte auch keine Rolle, dass sich die McDonalds als bekennende Christen um die Waisenkinder von Zvimba, wo die Rothwell Farm lag, kümmerten. Mugabes Kriegsveteranen waren und bleiben unberechenbar. Wie zur Zeit der Cäsaren im alten Rom verlangen sie jetzt von ihrem Herren Land für ihre Kriegsdienste aus vergangenen Zeiten. Ohne Mugabes Bodenreform hätten sie ihn gestürzt. Sie war sein vermutlich letzter Joker. Der Preis für sein politisches Überleben.
"Wir packten. Das war´s", sagt McDonald. Er streichelt über das Gesicht der blinden Virginia (4), die sie als einzige mitnehmen konnten. Norman Jr. (2), krabbelt zu ihm und zieht seinen bandagierten Klumpfuß hinterher. Die vierjährige Velma, die von den Freiern ihrer Mutter Zeit ihres Lebens missbraucht wurde, fängt an zu weinen, bis Sybil sie in ihre Arme nimmt und ihr über den Kopf streichelt. Und plötzlich wuseln 13 weitere Jungen und Mädchen um ihre Beine herum. "Vier Arme sind einfach nicht genug", lacht McDonald.
Statt nach Kapstadt zu ihren Töchtern zu gehen, blieben die McDonalds auf Wunsch des Bischofs in Harare, bezogen ein Haus mit Garten am Rande der Stadt und widmen ihre Energie nun ganz den Waisenkindern. "Alle haben Aids. Dass sie bald sterben, wissen wir. Doch bis dahin schenken wir ihnen Aufmerksamkeit und Liebe. Das hat jedes Kind verdient", sagt McDonald.
Von den zwölf Millionen Einwohnern Simbabwes ist jeder dritte HIV-infiziert. "Die Männer weigern sich, Kondome zu benutzen", sagt Krankenschwester Alice Mazanura (40), die für das Kinderhilfswerk WORLD VISION tätig ist. Sie sagt: "Die Menschen meinen, wenn sie nicht an Hunger oder dem nächsten Krieg sterben, dann soll der Tod doch wenigstens ein wenig Spaß machen." Kein Wunder also, dass die meisten ihrer 10000 Patienten, die sie in ihrer mobilen Klinik im Dzivarasekwa-Distrikt bei Harare zu versorgen hat, unter Geschlechtskrankheiten leiden.
Besonders betroffen sind junge Mädchen, die sich aus der Not heraus als Prostituierte feilbieten. Mit Kondom verlangen sie umgerechnet 50 Cents, ohne Schutz muss der Kunde einen Euro bezahlen. Die WORLD VISION-Krankenschwester: "Die Menschen sind verzweifelt. Sie haben Hunger. Um diesen zu stillen, tun sie alles, auch wenn er ihnen den Tod bringt." Schon heute hat jede Familie mindestens ein Todesopfer zu beklagen. Beerdigungen dürfen nicht mehr länger als 20 Minuten dauern. Da es kaum noch Särge gibt, werden die Toten in Plastikwannen unter die Erde gebracht.
In Portafarm, etwa 125 Kilometer von Harare entfernt, wird die Verzweiflung der Menschen deutlich sichtbar. Mehr als 2000 Personen warten, um sich eine Schüssel Mais abzuholen. Hier leistet WORLD VISION humanitäre Nothilfe. "Selbst unter den Kolonialherren war es nie so schlimm wie heute", sagt Julia Musiado (50). Seit Wochen ernähren sie und ihre Familie sich von Blättern, die Musiado in heißem Wasser zu einem Brei kocht, um überhaupt das Gefühl zu haben, satt zu sein.
Ihrem Sohn Marcos (33) sind tiefe Furchen des Elends ins Gesicht gemeißelt. Er sagt: "Es ist so schlimm, reich an Wünschen zu sein, aber zu arm, sich etwas zu essen zu kaufen." Sein Sohn David (14) äußerst seinen größten Wunsch: "Jeden Tag etwas zu essen haben." Dann stellen sich alle an und warten.
Dabei ist die Vegetation des Landes gut. Simbabwe könnte sich alleine ernähren. Das Problem: Nach der Bodenreform wurden nicht nur die weißen Farmer vertrieben, nein, mit ihnen ging auch das landwirtschaftliche Wissen, die Maschinen und die Investitionskraft. Da schwarze Farmer vom Wesen und Verständnis her Alleinversorger sind, sind sie nicht in der Lage, das Millionenvolk zu ernähren.
"Dass die Bodenreform notwendig war, bestreitet kaum jemand. Nicht einmal ein Großteil der insgesamt 2900 Landwirte. Nur entbehrt ihre Ausführung jede Vernunft und Gerechtigkeit", sagt Chris Venturas von der Anwaltskanzlei Byron, Venturas und Partner, die sich für die Rechte der weißen Farmer einsetzt. "Nach dem Gesetz soll das Land an die Bauern verteilt werden, die die meiste Erfahrung haben. Was aber passiert? Es geht an die, die die besten Beziehungen zu Mugabe haben", sagt Venturas, der immer wieder neue Korruptionsskandale aufdeckt.
Als die Reform eingeführt wurde, unterstützten die britische Regierung und die Weltbank das Unternehmen sogar mit Millionenbeträgen, die an die weißen Farmer gehen sollten. Das Geld versickerte aber im Korruptionssumpf oder als Sold für Mugabes Soldaten, die er in den Kongo schickte, um dort im Krieg um die Bodenschätze mitzumischen. Seitdem gibt es keine internationale Unterstützung mehr für die Regierung Mugabes. Die Konten sind eingefroren. Mugabe und seine Regierung bekommen keine Einreisegenehmigung für das europäische Ausland mehr.
Die Folge: Das Land steht still. Simbabwe zu Beginn des Jahres 2003 befindet sich am Abgrund. Politisch, wirtschaftlich und als Gesellschaft. Momentan liegt die Inflationsrate bei 175 Prozent. Nach Auskunft des Internationalen Währungsfonds wird sie in diesem Jahr auf 500 Prozent steigen. Offiziell bekommt man in Simbabwe für einen US-Dollar 50 Simbabwe-Dollar. Auf dem Schwarzmarkt liegt der Tauschkurs aber bei 1700 Simbabwe-Dollar für einen US-Dollar.
Löhne und Gehälter indes bleiben gleich. Mit weiter schwindender Kaufkraft. Auch verfügt Simbabwe über keine Devisen. Von daher gibt es auch keine Importe. Seit Wochen schon fehlt es dem Land an Benzin. Vor jeder Tankstelle warten die Menschen auf die nächste Lieferung. In kilometerlangen Warteschlangen. Tag und Nacht. Wann es die nächste Füllung gibt? Keiner weiß es.
Die einzige Freiheit, die die Menschen Simbabwes noch haben, ist die freie Wahl der Warteschlange. Wer noch Arbeit hat, gelangt nicht in die Fabriken, weil keine Busse mehr fahren. Die Textilindustrie, die gut ein Viertel des Bruttosozialproduktes erwirtschaftet, ist zusammen gebrochen. "Wir haben Fehler gemacht", sagte kürzlich Landwirtschaftsminister Joseph Made. Dass er immer noch im Amt ist, überrascht viele. Wer aufmuckt, verschwindet. Das gilt für die politische Opposition wie für Journalisten, die unbequeme Fragen stellen. Die Gefängnisse sind hoffnungslos überfüllt. Der Geheimdienst CEO ist allgegenwärtig. Es wimmelt von Spitzeln.
Und auf den Straßen wüten die sogenannten "Green Bombers", arbeitslose Jugendliche, die aus der Gosse aufgegriffen und in Lagern umerzogen werden, um anschließend die Zivilbevölkerung zu tyrannisieren. Schlägertrupps, die das langsam ungeduldig werdende Volk unter Kontrolle zu halten versuchen. "Fragt sich nur, wie lange noch. In den nächsten Monaten wird es hier explodieren", sagt ein internationaler Beobachter.
Das weiß auch Norman McDonald. Trotzdem gibt er die Hoffnung nicht auf. Jeden Tag werden ihm neue Waisenkinder gebracht, die, manche nur für wenige Wochen, zu seiner Familie gehören und die er wie seine eigenen Töchter liebt. "Wir glauben, dass uns Gott hierher befohlen hat, um Gutes zu tun. Selbst wenn unsere Zeit beschränkt ist", sagt er.
Dann verlangt die blinde Virginia wieder seine Aufmerksamkeit. Gemeinsam toben sie durch den Garten. Das Mädchen tastet sich um die Schaukel und die Wippe, kreischt vor Glück und wirft sich schließlich in die Arme von McDonald. "Darum geht es doch", sagt er, "um das Lachen eines Kindes." Und wenn man die Augen schließt und nur Virginia zuhört, könnte man meinen, dass all das, was hinter den Mauern der McDonalds liegt, nur ein böser Spuk ist und der Tod schon längst ausgeladen wurde.
(Sönke C. Weiss, World Vision Deutschland)
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