Herr Ruf, Sie waren kürzlich mit einem Team im Nordirak, um den Kindern dort zu helfen. Bitte beschreiben Sie die Situation vor Ort.
Während unseres Einsatzes im August und September 2014 haben wir unter anderem in Khanke gearbeitet, einem kleinen Dorf am Mossul-Staudamm etwa eine halbe Autostunde von Dohuk Richtung Seemel entfernt. Am Rand des Dorfes hat sich eine provisorische Notunterkunft gebildet, die über 5.000 Flüchtlinge beherbergt. Ein kurdischer Kaufmann namens Ali Zdin hat dieses Lager aus eigenen Mitteln aufgebaut.
Außer fünf UNHCR-Zelten hat er für alle anderen Zelte gesorgt und die Menschen mit drei Tonnen Reis pro Tag notdürftig ernährt. Wasser wird täglich mit Tanklastwagen zum Camp gefahren. Es reicht geradeso zum Trinken, aber nicht für hygienische Zwecke oder zum Waschen von Kleidung. Toiletten gibt es keine. Seit kurzem kümmern sich auch zwei Ärzte um die vielen Kranken und Verletzten. Ali Zdin ist kein Einzelfall. Die Hilfe und Solidarität für die Flüchtlinge aus Initiative einzelner Menschen ist groß. Nur so konnte bisher eine humanitäre Katastrophe einigermaßen verhindert werden.
Im August und September herrschten dort Temperaturen bis zu 45 Grad. Nun ist der Winter nicht mehr weit, was die Situation drastisch verschlimmern könnte. Neben den Lagern des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) campieren hunderte Flüchtlinge auch in Rohbauten, die weder über Außenwände noch sonstige Sanitäranlagen verfügen. Auch hier wird der Winter den Menschen schwer zu schaffen machen.
Wie genau haben die Freunde im Nordirak Hilfe geleistet und wo?
Wie alle Traumaopfer benötigen auch die etwa 2.500 Flüchtlingskinder von Khanke zur Verarbeitung ihrer Traumata Orte der Sicherheit und Geborgenheit. Dabei kann es sich um äußere Orte, innerseelische Orte, aber auch um den eigenen Körper handeln. Ohne eine Grundsicherheit können traumatische Erfahrungen nicht überwunden werden.
Das notfallpädagogische Kriseninterventionsteam errichtete auf freiem Feld ein offenes Kinderschutzzentrum (Child Friendly Space) für täglich bis zu 800 Kinder und Jugendliche. Der Platz wurde für die Zeit der Intervention abgegrenzt und gesäubert. Die notfallpädagogische Arbeit begann mit einem gemeinsamen Anfangskreis, in dem rhythmische Übungen durchgeführt und Lieder gesungen wurden. Dann folgten acht Workshops mit jeweils über 100 Kindern oder Jugendlichen. Zum Abschluss des Tages wurden die verschiedenen Gruppen dann wieder zu einem großen Abschlusskreis zusammengeführt, der spiegelbildlich zum Anfangskreis aufgebaut und gestaltet wurde. Unzählige Erwachsene umsäumten das abgegrenzte Arbeitsfeld und bildete einen weiteren Schutzraum für die Aktivitäten der Kinder. Viele von ihnen reihten sich in die pädagogische Arbeit ein, malten, filzten und rhythmisierten wie ihre Kinder. Auch die Eltern sind traumatisiert und benötigen Hilfe.
Wir haben aber auch in Dohuk in verschiedenen Schulen gearbeitet, die in den Ferien zu Flüchtlingslagern umfunktioniert wurden. Damit die Arbeit vor Ort kontinuierlich weitergehen kann, haben wir außerdem kurdische Freiwillige ausgebildet, die die Arbeit fortführen, was sie aktuell auch tun.
Was brauchen die Menschen am nötigsten? Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen?
Das Leid der Menschen ist unermesslich und das, was sie erlebt haben, unvorstellbar. Sie brauchen Wasser, Nahrung, Medikamente, warme Kleidung für den Winter und Sicherheit, Halt und einen Ort, an den sie gehören. Sie benötigen natürlich auch psycho-soziale Unterstützung, um an dem Erlebten nicht zu erkranken. Ich denke, dass die aktuell größte Herausforderung die kalten Wintermonate sind, die viele Menschen ja im Freien verbringen müssen. Wie sich die Sicherheitslage vor Ort entwickelt, ist schwer einzuschätzen, doch leben die Flüchtlinge in ständiger Angst und mit ständiger Bedrohung durch die Kämpfer des IS.
Was hat Sie am meisten bewegt?
Bei einem humanitären Einsatz, bei dem man mit den Schwächsten arbeitet, gibt es viele bewegende Momente, die sich zum Teil nur schwer in Worte fassen lassen. Da gibt es Eltern, die einem ihr Kind mitgeben möchten, damit es eine bessere Zukunft hat. Da gibt es komplett verstummte kleine Menschen, die apathisch und Angst zerfressen in Ecken kauern.
Besonders berührt hat mich die Begegnung mit einem etwa acht Jahre altem Mädchen. Wir waren in einer Schule in Dohuk tätig, in deren Klassenräumen Flüchtlinge untergebracht waren. Da führte eine Mutter ihre völlig verstörte, körperlich verkrampfte und ängstliche Tochter vor die Tür. Sie kauerte dicht an ihre Mutter gedrängt an der Türschwelle ihres provisorischen Zuhauses. Die Mutter gab ihr den benötigten Schutz. Schließlich führte sie ihre Tochter an einen Kreis mit Kindern heran, die kneteten. Dann wurde gesungen und geklatscht. Ich kann nicht genau beschreiben, wann der Moment war, an dem sich das Kind zuerst zaghaft und schließlich freudig an den Aktivitäten beteiligte. Ihr Gesicht war auf einmal entkrampft und strahlte, ihre Körperhaltung war aufrecht und nicht mehr gebeugt. Wir haben die Entwicklung in Fotos festgehalten. Als das Mädchen nach ca. 20 Minuten von sich aus in den Kreis der Kinder stellte und für alle ein Lied sang, waren mein Team und ich zutiefst bewegt. Solche Momente zeigen einem, dass das, was man macht, für die Menschen in Notsituationen tatsächlich eine Bedeutung hat.
Ist es in Zeiten, in denen Gräueltaten mit Handyvideos aufgezeichnet werden können, nicht erheblich schwerer Menschen dabei zu unterstützen, traumatisierende Erlebnisse zu verarbeiten? Sicherlich haben die Flüchtlinge im Nordirak dutzende Aufnahmen der Gewalt der IS - wie gehen die Menschen damit um?
Ein Element einer Traumatisierung ist die ständige Wiederholung des Traumas. Sich also immer wieder in die Situation zu bringen, ist ein Charakteristikum. Um Kinder vor solchen Aufnahmen zu schützen, bedarf es Aufklärungsarbeit für die Eltern. Wir bieten auch Elternberatungen an, in denen wir ihnen erklären, wie ein Trauma wirken kann und was sie als Eltern für sich und ihre Kinder tun können. Viele Eltern sind mit den Verhaltensveränderungen ihrer Kinder überfordert, die plötzlich zu aggressivem Verhalten neigen, wieder einnässen oder aufhören zu sprechen.
Nicht nur Handyvideos, auch das Sprechen über die Geschehnisse kann für Kinder ein Problem sein, da es die Betroffenen in den Augenblick des Geschehens zurückversetzt. Natürlich muss man jedoch zwischen traumatischen und einem distanziert sachlichen Erzählen unterscheiden. Bei solchen Problemen sind wir aber immer auf die Zusammenarbeit mit den Eltern und lokalen PädagogInnen angewiesen.
Schließen wir den Kreis zu den anfangs erwähnten Methoden der Notfallpädagogik: bei jeder Krisenintervention haben wir mit den Kindern gemalt. Auch im Nordirak mussten wir bei vielen Kindern feststellen, dass ihr Malen ein traumatisches Malen war, da sie immer wieder Gewaltszenen, Blut, Krankenwägen und Waffen aufs Papier gebracht haben. Durch das Anleiten von bestimmten Motiven können Kinder vom traumatischen Malen weggeführt werden. Nehmen wir z.B. einen Baum, der mit seinen starken Wurzeln fest im Boden verankert ist. Dieses Motiv bedeutet etwas: Kraft, Halt und Orientierung – und genau dies brauchen traumatisierte Kinder und diese inneren Bilder müssen denen auf digitalen Geräten entgegengesetzt werden.
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