von Arne Perras (SZ.de)
Wer die Aufgabe hat, aus fernen Welten zu berichten, macht manchmal irritierende Erfahrungen. Man sieht bei der Arbeit in armen Ländern vieles, was zum Himmel schreit. Aber will das zu Hause, im fernen Europa, jemand lesen, hören, sehen? Klar, es gibt die sogenannten nachrichtenarmen Zeiten, das berüchtigte Sommerloch, in dem die Gesellschaften in den Wohlstandszonen samt ihrem Politikbetrieb in Ferien sind. Zeitungen haben dann auf einmal Platz für nahezu alles, sogar den Krieg in den Savannen des Sudan. Oder für Naturgewalten, die indische Kinder fortreißen oder Dörfer in Sri Lanka unter Schlamm begraben.
Wann sorgt Leid für Interesse?
Die Lehre aus diesen schwankenden Erfahrungen lautet: Existenzielles Leid per se reicht nicht, um konsequentes Interesse auszulösen. Viele Faktoren entscheiden darüber, ob es eine Katastrophe in die Abendnachrichten schafft. In der Vermittlung von Informationen ist das Ausmaß der Gefährdung von Menschen kein allgemeingültiges Kriterium. Ansonsten wäre alles einfach. Dann würde die Regel gelten: Die Fluten in Asien sind derzeit besonders groß, also wird groß darüber berichtet.
Stattdessen wirken andere Reflexe meistens stärker: Nichts zeigt dies besser als das krasse Gefälle, das sich nun in der europäischen Wahrnehmung zweier großer Naturkatastrophen aufgebaut hat. In Texas/USA tobt Hurrikan Harvey. Und das südliche Asien versinkt in den Fluten des Monsuns. In Indien, Nepal und Bangladesch haben die Naturgewalten weit mehr als tausend Menschen in den Tod gerissen, in den USA haben bislang drei Dutzend Bewohner ihr Leben gelassen. Harvey läuft auf allen Kanälen, die Reportagen aus Houston überschlagen sich. Und die Flutopfer in Südasien?
Wenn mediale Aufmerksamkeit auch ein Gradmesser für Werte einer Gesellschaft ist, muss sich Europa einige Sorgen machen. Vielleicht sind die Europäer noch immer nicht frei von postkolonialer Überheblichkeit, vielleicht haben sie noch rassistische Vorstellungen, ohne sich das einzugestehen. Denn zynisch gesprochen ist es doch so: Es müssen erst Hunderte Bauern in Bangladesch ertrinken, bevor ihnen ähnliche Aufmerksamkeit zukommt wie einem einzigen Opfer in der westlichen Welt.
Möglicher Grund: fehlende emotionale Nähe
Nun werden manche einwenden, das sei ganz natürlich und auch in Ordnung. Denn Interesse hänge ab von den Möglichkeiten der Identifikation - und der emotionalen Nähe, die nötig sei, um Menschen für das Schicksal anderer zu interessieren. Eines dieser Argumente geht in etwa so: Houston ist eine westliche Industriestadt, sie spiegelt für Europäer eine eher vertraute Lebenswelt wider. Die Dörfer im Delta des Ganges hingegen sind ihnen fremd. Deshalb berührt das Leid in Houston Europäer stärker als die vielen Opfer in Asien.
Wirklich? Amerikaner und Europäer mag ja vieles verbinden. Aber rechtfertigt das, andere Kulturen auszublenden? Auch die Erregungskurven in sozialen Medien mögen Hinweise geben, was Leute auf diesem oder jenem Kontinent gerade bewegt. Doch was ist mit jenen, die gerade nicht durch die Netze zwitschern? Man muss sich hüten, sie automatisch als interesselose oder gar indifferente Wesen einzustufen, obgleich man ihr Interesse vielleicht nicht im Netz sehen kann.
Oder ist es vielleicht noch ganz anders? Man könnte zum Beispiel annehmen, dass alles, was die Supermacht Amerika bewegt, automatisch wichtig ist für den Rest der Welt. In der Politik mag dies sehr berechtigt erscheinen. Doch im Falle von Naturkatastrophen überzeugt das nicht. Sicherlich, es wird niemals gelingen, für alle Opfer dieser Welt Aufmerksamkeit aufzubringen. Aber ein wenig mehr Balance täte gut. Es wäre ein Zeichen, dass die reiche Welt des Westens die Menschenwürde für universell und unteilbar hält.
Dieser Kommentar von Arne Perras erschien am 1. September 2017 auf www.sueddeutsche.de. Der Autor Perras, Jahrgang 1967, ist Korresponent für Süd- und Südostasien und lebt mit seiner Familie in Singapur.
© Süddeutsche Zeitung. Mit freundlicher Genehmigung von sz-content.de
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