von Aktion Deutschland Hilft/ Malteser International
Die Zahl der weltweit an Hunger leidenden Menschen ist in den letzten fünf Jahren dramatisch gestiegen. Roland Hansen, Leiter der Afrikaabteilung bei Malteser International, erklärt im Interview, welche Ursachen dahinterstecken, warum die Zahlen trotz globaler Bemühungen nicht sinken und was passieren müsste, um den Hunger in der Welt langfristig zu bekämpfen.
"Dass öffentliche Gelder gekürzt werden, verbessert die Lage natürlich nicht"
Aktion Deutschland Hilft: Rund 783 Millionen Menschen leiden weltweit an Hunger – 122 Millionen mehr als noch 2019. Wie lässt sich dieser rasante Anstieg erklären? Und warum sinken die Hungerzahlen nicht wieder?
Roland Hansen: Der weltweite Anstieg hat verschiedene Ursachen, die sich allesamt in den letzten Jahren stark verschärft haben. Vor allem die wirtschaftlichen Einbrüche, ausgelöst durch die weltweiten Lockdowns während der COVID-19-Pandemie, haben zu diesem rasanten Anstieg ab 2020 geführt.
Viele Menschen, vor allem in Ländern mit einem stark ausgeprägten informellen Sektor wie Indien, Brasilien oder die afrikanischen Staaten, haben durch die Lockdowns von einem Tag auf den anderen ihr Einkommen verloren. Die Armut hat rasant zugenommen – und damit auch der Hunger.
Ab 2021 sind dann weltweit die Preise für Grundnahrungsmittel in die Höhe geschnellt, vor allem für Getreide. Wetterbedingt schlechte Ernten in den wichtigsten Anbaugebieten in Süd- und Nordamerika, Australien und Kanada haben dazu beigetragen.
Darüber hinaus sind die Preise für Düngemittel, Transport und Energie gestiegen. Gepaart mit einer weltweit erhöhten Nachfrage haben sich die Getreidepreise zeitweise verdoppelt. Die Eskalation des Krieges in der Ukraine 2022 hat diese Entwicklung zusätzlich verschärft.
Die Aussichten, dass die Zahl weltweit hungernder Menschen zurückgeht beziehungsweise wieder auf das Level vor der Pandemie sinkt, sind momentan eher schlecht. Humanitäre Krisen nehmen in allen Regionen der Welt zu statt ab. Und dass öffentliche Gelder für Internationale Hilfe gekürzt werden, verbessert die Lage natürlich nicht.
Laut den Vereinten Nationen leben 70 Prozent der Menschen mit akuter Ernährungsunsicherheit in Gebieten, die von Kriegen und Gewalt gezeichnet sind. Sind Konflikte der Hauptgrund für Hunger?
Bewaffnete Konflikte sind einer der wichtigsten Treiber von Hunger, ja. Sie sorgen dafür, dass das tägliche Leben zum Erliegen kommt, sich die Versorgungslage massiv verschlechtert und viele Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren. Konflikte wie im Sudan, in der DR Kongo oder im Gazastreifen führen heute dazu, dass die Zahl an Hunger leidender Menschen weltweit steigt.
Allerdings sind bewaffnete Konflikte nur ein Teil des Problems. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Klimakrise und ihre Folgen: 2023 war das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen und extreme Wetterereignisse wie Dürren und Überschwemmungen haben die Landwirtschaft in vielen Ländern stark beeinträchtigt. Außerdem belasten wirtschaftliche Krisen einkommensschwache Länder derzeit besonders stark.
7 Fakten rund um Hunger weltweit
Der Magen macht sich bemerkbar und die Konzentration sinkt allmählich – mit Hunger meinen viele Menschen das Gefühl, das entsteht, wenn sie einige Stunden keine Nahrung zu sich genommen haben.
Doch ab wann wird Hunger zu einem ernstzunehmenden Problem? Wann spricht man von Unter-, wann von Mangelernährung? Und was ist eigentlich versteckter Hunger? Einen Überblick über die wichtigsten Definitionen finden Sie hier.
Während die meisten Menschen im sogenannten Globalen Norden beim Verspüren von Hungergefühlen einfach in den Kühlschrank greifen können, begleitet Hunger viele Menschen in Ländern wie Sudan, Nigeria oder Bangladesch durch den Alltag. Naturkatastrophen, Armut sowie Krisen und Konflikte führen dazu, dass es in verschiedenen Regionen der Welt strukturellen Hunger gibt.
Hunger ist nicht gleich Hunger. Um das Ausmaß innerhalb einer Bevölkerung feststellen zu können, hat das World Food Programme (WFP) die fünf Stufen einer Hungerkrise festgelegt. Erfahren Sie mehr!
Mangel- und Unterernährung schaden dem Körper und macht ihn anfälliger für Infektionskrankheiten. Im schlimmsten Fall führt Hungerleiden zum Tod. Akuell sind rund 1,33 Millionen Menschen akut von einem Hungertod bedroht.
Menschen, die von Hunger betroffen sind, haben häufig auch mit wirtschaftlichen und sozialen Folgen zu kämpfen. Wird das Geld knapp, müssen viele an Existenzgrundlagen wie Bildung sparen oder Teile ihres Besitzes verkaufen – um sich kurzfristig Nahrung leisten zu können. Die Folge: Diese Menschen geraten noch weiter in eine Spirale aus Armut, die sich wiederum auf die soziale Teilhabe auswirkt.
Hier erfahren Sie mehr über den Teufelskreis der Armut.
Quelle: Vereinte Nationen
Laut UN Food Waste Index Report 2024 landen weltweit mehr als eine Milliarde Tonnen Nahrungsmittel in der Tonne – weitere gehen während der Produktion, Ernte oder Lagerung verloren. Dabei könnten 1,26 Milliarden Menschen mit den Lebensmitteln ernährt werden, die jedes Jahr verloren gehen oder verschwendet werden. Das wären mehr als 15 Prozent der Weltbevölkerung.
Fest steht: Um Ernährungskrisen wirksam entgegenzutreten und stabile Ernährungssysteme sicherzustellen, müssen diese wertvollen Ressourcen besser geschützt werden.
Ein gutes Beispiel für die Eindämmung der Lebensmittelverschwendung, ist die Arbeit der Tafeln. Sie verteilt Nahrungsmittel, die nicht mehr verkauft werden an Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Und die Hilfe kommt an: Allein in Nordrhein-Westfalen werden mehr als eine halbe Million armutsbetroffene Menschen unterstützt.
Quelle: Vereinte Nationen
Weltweit sind 47,8 Millionen mehr Frauen als Männer von einer mittelschweren oder schweren Nahrungsmittelunsicherheit betroffen. Während Covid-19 war der Unterschied sogar noch größer: 2021 war eine von drei Frauen einer mittelschweren oder schweren Nahrungsmittelunsicherheit ausgesetzt. Zudem variieren geschlechtsspezifische Unterschiede je nach Region: Am größten ist die Lücke in Lateinamerika und der Karibik, gefolgt von Zentral- und Südasien.
Nicht selten sind Frauen und Mädchen die ersten in der Familie, die auf Nahrungsmittel verzichten, wenn sie knapp werden. Auch in der Produktion von Nahrung werden Frauen benachteiligt. Obwohl die Landwirtschaft auf ihre Fürsorge und unbezahlte Arbeit angewiesen ist, befindet sich ein großer Teil des Landesbesitzes, und damit auch die Entscheidungsbefugnis, in Männerhand.
Das heißt auch, dass viel Wissen ungenutzt bleibt, denn Schätzungen zeigen: Hätten Frauen einen gleichberechtigten Zugang zu Produktionsmitteln, könnten die Erträge der landwirtschaftlichen Betriebe um 20 bis 30 Prozent wachsen.
Quellen: UN Women, FAO
Auf der ganzen Welt sind Menschen, die in ländlichen Gebieten leben, häufiger von Ernährungsunsicherheit betroffen. Das liegt unter anderem an den oftmals begrenzten Einkommensmöglichkeiten sowie an der ausbaufähigen Verkehrs- und Lagerinfrastruktur, wodurch der Handel erschwert wird. Menschen in urbanen und stadtnahen Gebieten sind seltener betroffen.
Bedeutet das also, mehr Städte gleich weniger Hunger?
- Aufgrund der zunehmenden Urbanisierung sind die Regionen stärker miteinander verbunden, wodurch mehr Arbeitsplätze entlang der Lebensmittelwertschöpfungskette entstehen.
- Aber: Es besteht auch das Risiko, dass kleine landwirtschaftliche Betriebe in stadtnahen Gebieten ihr Land an das Wachstum der Stäte verlieren könnten.
- Und: Mit der Urbanisierung werden die Bewohner:innen von ländlichen Gebieten immer mehr von Einkommen und Lebensmittelpreisen abhängig, da sie künftig einen größeren Teil der Nahrung durch Einkauf erwerben müssen.
Quelle: FAO
Von schwankenden Rohstoffpreisen, über den steigenden Nahrungsmittelbedarf bis hin zur Verschärfung von Wetterextremen durch den Klimawandel - die Ursachen von Hunger sind komplex und es gibt viel zu tun. Ein paar Beispiele:
- Unsere Bündnisorganisationen machen es vor und setzen auf landwirtschaftliche Innovationen, wie den Einsatz von dürresistentem Saatgut oder Methoden wie Hydroponik, ein wassersparendes System zur Aufzucht und Kultivierung von Pflanzen. Erfahren Sie mehr über die weltweite Hilfe!
- Wichtige Bausteine der globalen Agrarwende sind die gezielte Förderung fairer Handelspraktiken, gerechter Preispolitiken sowie die Regulierung von Rohstoffspekulationen.
- Ihr Beitrag zählt: Unter dem Motto "Gemeinsam gegen den Hunger der Welt" gibt es auch 2024 rund um die Weihnachtszeit eine gemeinsame Spendenaktion von WDR und Aktion Deutschland Hilft. Mit Ihrer Spende unterstützen Sie 33 Hilfsprojekte auf der ganzen Welt, die humanitäre Hilfe gegen die Nahrungsmittelkrise leisten.
Danke an alle, die helfen!
Um die wachsende Weltbevölkerung ernähren zu können, werden bis 2050 schätzungsweise 60 Prozent mehr Nahrung benötigt. Gleichzeitig schwinden mit der Klimakrise weltweit wichtige Anbauflächen und -regionen. Stehen wir in Zukunft vor einem unlösbaren Problem?
Nein, das würde ich nicht sagen. Wenn die Kipppunkte beim Klimawandel nicht überschritten werden, kann eine moderne Landwirtschaft eine wachsende Weltbevölkerung ernähren.
Dafür sind jedoch einige entscheidende Maßnahmen notwendig. Der aktuelle UN-Bericht zur Nahrungsmittelsicherheit und Ernährung hat gezeigt: Mehr Investitionen in nachhaltige, lokale Landwirtschaft sowie in den Ausbau der Gesundheitsversorgung würden den Hunger in der Welt deutlich senken.
Und man sollte auch bedenken, dass es Regionen auf der Welt geben wird, die von den klimawandelbedingten Wetteränderungen profitieren werden. Dieses Jahr gibt es zum Beispiel sehr positive Einschätzungen zu besseren Ernten in Lateinamerika, der Karibik und in Teilen Ostafrikas.
Aber es wird eben auch Regionen geben, wo es aufgrund der Klimakrise für die Menschen schwieriger bis unmöglich sein wird, sich aus eigenen Kräften zu ernähren. Ich denke, dass wir in Zukunft wie auch heute eher vor einem Verteilungsproblem stehen werden – und nicht unbedingt vor einem globalen Mangel an Nahrung.
Welche langfristigen Strategien verfolgen Organisationen wie Malteser International, um den weltweiten Hunger zu lindern – aber auch präventiv zu verhindern?
Wir von Malteser International unterstützen Gemeinden in besonders betroffenen Regionen der Welt dabei, widerstandsfähiger gegen Ernährungskrisen zu werden. So zum Beispiel durch die Schaffung einer nachhaltigen Wasserversorgung oder der Einführung von klimaangepassten Anbaumethoden.
Zahlreiche Hilfsprojekte zielen darauf ab, den dringenden Bedarf an Nahrung zu decken, während gleichzeitig in langfristige Lösungen zur Ernährungssicherheit investiert wird. Diese sollen den Gemeinschaften dabei helfen, zukünftige Schocks eigenständig
zu bewältigen.
Krisenvorsorge hängt auch immer eng mit Nachhaltigkeit und dem Schutz der Menschen zusammen. Daher bauen wir in unseren Projekten Frühwarnsysteme und gemeinschaftliche Sicherheitsnetze auf und achten darauf, dass unsere Arbeit klima- und umweltfreundlich bleibt. Dazu gehören zum Beispiel solarbetriebene Brunnen und Gesundheitszentren, Recycling von Plastik und die Verwendung lokaler, nachhaltiger Ressourcen.
+++ Spendenaufruf +++
Aktion Deutschland Hilft, Bündnis der Hilfsorganisationen,
bittet um Spenden für von Hunger betroffene Menschen in Afrika:
Stichwort: Hunger in Afrika
IBAN DE62 3702 0500 0000 1020 30
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