von Aktion Deutschland Hilft/IsraAID Germany
Vor mehr als einem Jahr eskalierte die Lage in der Ukraine und ein Krieg brach aus. Bis heute bestimmt er das Leben der Menschen im Land. Leid, Verlust und Zerstörung machen etwas mit den Menschen, die Folgen werden noch lange spürbar sein.
Psychologische Ersthilfe – rund um die Uhr
Das psychosoziale Team von IsraAID Germany, einem Partner der Bündnisorganisation ZWST, ist seit Kriegsausbruch im Einsatz, um psychologische Ersthilfe zu leisten – zum Teil vor Ort in Luftschutzbunkern und auf der Straße, zum Teil per Hotline am Telefon. Hier finden Sie Auszüge aus Gesprächen, die die Helfer:innen geführt haben. Die Geschichten wurden anonymisiert.
April 2022: "Ich habe eine Menge Wut in mir"
Juni 2022: "Wir erwarten jeden Tag unseren Tod"
Oktober 2022: "Auf einmal habe ich alles verloren"
Oktober 2022: "Wir konnten uns aus den Trümmern retten"
Dezember 2022: "Ein Krieg tobte und mein Sohn schlief in seinem Kinderbettchen"
April 2022: "Ich habe eine Menge Wut in mir"
In diesem Gespräch geht es um eine Person, die bereits zweimal fliehen musste – 2014 und jetzt.
"Ich beginne meine Geschichte im Jahr 2014. Dem Jahr, in dem ich gezwungen war, meine Heimatstadt mit meiner Familie zu verlassen, weil die Kampfhandlungen dort begannen und die Invasoren bald darauf die Stadt eroberten. Ich war erst neun Jahre alt und verstand den Ernst der Lage nicht. Wir zogen in das Haus meiner Großeltern, aber auch dort begann bald schwerer Beschuss.
Und eines Tages schlug eine Granate in unseren Hof ein. Zu diesem Zeitpunkt stand mein Großvater am Fenster. Bei der Explosion zersprang das Glas und verletzte sein Gesicht, alles war blutverschmiert, auch der Hof war zerstört. Wir waren sehr verängstigt und mussten wieder in eine andere Stadt umziehen. Es war sehr anstrengend für mich, mein Auge zuckte und laute Geräusche machten mir Angst. Bald schien sich alles zu beruhigen. Wir lebten uns ein und gewöhnten uns an unser neues Zuhause. Im Laufe der Jahre habe ich diese Stadt lieben gelernt.
Dann beendete ich die Schule und bin nach Charkiw gezogen, um dort zu studieren. Es war die schönste Stadt, die ich je gesehen habe! Ich habe dort sehr gern gelebt. Dann kam ich über das Wochenende nach Hause, und die Geschichte wiederholte sich.
Ich wachte morgens auf und hörte laute Schüsse, hatte Panik und wusste nicht, was ich tun sollte. Bald schaffte ich es, zu fliehen. Die Flucht war sehr beschwerlich, mit riesigen Staus, die bis zu sieben Stunden dauerten. An den Tankstellen gab es lange Schlangen und überhaupt kein Benzin. Aber wir schafften es trotzdem, nach drei Tagen einen sicheren Ort zu erreichen.
Ich war sehr froh, dass ich fliehen konnte, aber meine Großeltern weigerten sich kategorisch, das Haus zu verlassen. Ich weinte jede Nacht und machte mir große Sorgen um sie, denn außer ihnen hatte ich niemanden mehr, seit meine Mutter vor fast zwei Jahren gestorben war.
Zu meiner Großmutter hatte ich so gut wie keinen Kontakt, und es war sehr schwer, sie zu erreichen. Jedes Mal, wenn ich mit ihr sprach, hörte ich sehr laute Schüsse. Jedes Mal bat ich sie, zu gehen, aber sie weigerte sich. Doch eines Tages gelang es mir, sie zu überreden. Sie wurden mit dem Zug evakuiert und kamen zu mir. Ich war so glücklich, sie lebendig und gesund zu sehen!
Jetzt scheine ich an einem sicheren Ort zu sein, obwohl es ständig Alarme und gelegentliches Bombardement gibt. Ich habe eine Menge Wut in mir."
Juni 2022: "Wir erwarten jeden Tag unseren Tod"
Dieser Anruf kam von einer Frau, die zu diesem Zeitpunkt im besetzten Osten der Ukraine lebte. Sie brauchte einen Menschen, der ihr zuhört.
"Ich lebte und arbeitete, kümmerte mich um meine Eltern, meine Enkel und Kinder kamen mich besuchen. Mit einem Mal war das alles vorbei, zu Ende. Das ist schlimmer als der Tod, denn man stirbt nicht physisch, sondern sieht zu, wie einem das Leben entrissen wird. Man existiert nur noch. Ich habe keine Pläne, keine Wünsche, ich bin einfach nur ein Lebewesen.
Die Angst, die ich jeden Tag beim Bombardement erlebe, ist bereits die Normalität. Ich kann nicht weggehen, weil ich unsere alten Eltern bei mir habe. Wir sitzen also da und erwarten jeden Tag unseren Tod. Ich bin jetzt ohne Arbeit, weil ich keine Zeit dafür habe, denn jede Minute ist man bereit für eine neue Explosion. Ich empfinde keine Wut, keinen Hass, keine Empörung – ich bin einfach nur geschockt."
Auf das Verständnis der Psychologin an der Hotline reagierte die verzweifelte Frau erleichtert.
Oktober 2022: "Auf einmal habe ich alles verloren"
Dieser Anruf stammt von einer Frau aus der Region Charkiw. Am Telefon sagte sie, sie wisse nicht, an wen sie sich wegen ihrer Depression wenden könne. Die Psychologin hörte zu, schlug bestimmte kunsttherapeutischen Techniken vor und riet ihr, viel Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, spazieren zu gehen, ein gemeinsames Hobby zu finden, damit sie sich ablenken können.
"Im April habe ich auf einmal alles verloren, mein Haus und meinen Mann. Ich bin am 24. Februar in die Westukraine gegangen, und im April schlug eine Granate in unser Haus ein. Mein Mann starb während des Beschusses. Ich verstehe den Sinn des Lebens nicht. Wie kann ich leben?
Ein halbes Jahr ist vergangen, ich erinnere mich an all unsere glücklichen Tage, wie wir versuchten, ein Haus und einen Hof zu bauen. Was soll ich tun? Sagen Sie mir, ist dieser Schmerz für immer? Wir haben zwei Mädchen, sie haben Mitleid mit mir und sie weinen mit mir. Ich verstehe, dass ich irgendwie lernen muss, zu leben. Kinder brauchen eine ruhige Mutter, nicht so wie ich jetzt. Ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll!"
Für die Frau war es schwierig, eine gemeinsame Sprache mit den Kindern zu finden, da alle unter großem Stress standen. Die Psychologinnen arbeiteten mehrmals mit der Frau, um ihren Zustand zu stabilisieren. Danach fand eine Sitzung mit den Kindern statt. Nach mehreren Sitzungen waren bereits positive Veränderungen sichtbar.
Oktober 2022: "Wir konnten uns aus den Trümmern retten"
Eine junge Frau, die aus der Region Donezk vertrieben worden war, wandte sich an die Psychologinnen der Hotline.
"Mein Mann und ich wollten das Haus möglichst nicht verlassen. Obwohl es lange Zeit weder Strom, Gas noch Wasser gab. Wir holten Wasser aus dem nahe gelegenen Stausee und kochten unser Essen auf dem Feuer im Freien. Wann immer es möglich war, schickten uns unsere Freunde Lebensmittelpakete.
Aber das war sehr schwierig, weil nur wenige Menschen in unsere Stadt kommen. Dann schlugen mehrere Raketen in unser Haus ein. Es war am Abend, wir waren im Haus. Schon nach der ersten Rakete war das ganze Haus zerstört. Wir konnten uns aus den Trümmern retten und haben wie durch ein Wunder überlebt. Während wir uns retteten, schlug die zweite Rakete in die Überreste des Hauses ein, und das Feuer brach aus.
Mein Mann und ich waren verwundet, konnten aber noch laufen, und so gingen wir Fuß zur Wohnung unserer Verwandten am anderen Ende Stadt. Am Morgen kehrten wir zu unserem zerstörten Haus zurück, um zu sehen, ob einige Dinge und Dokumente erhalten geblieben waren. Aber alles war niedergebrannt. Wir verließen die Stadt in den Kleidern, die wir an diesem Tag getragen hatten.
Die Psychologin unterstützte die junge Frau dabei, sich zu stabilisieren und den Stress zu reduzieren. Bei den Gesprächen stellte sich heraus, dass die junge Frau Verwandte hat, die ihr beispielsweise mit einer Wohnung helfen konnten.
Dezember 2022: "Ein Krieg tobte und mein fünf Monate alter Sohn schlief in seinem Kinderbettchen"
Dieses Gespräch fand zwischen einer der Psychologinnen und einem jungen Mann statt. Er hatte an einem Treffen des Teams teilgenommen und um individuelle Beratung gebeten.
"Ich habe mein ganzes Leben in einer kleinen Stadt gelebt und in einem Bergwerk gearbeitet. Ich habe zwei kleine Kinder, lebte ein glückliches Leben, auch wenn ich mich oft beklagte. Ich begann es erst zu schätzen, als ich alles verlor, was ich erreicht hatte.
Am 24. Februar 2022 wachte ich frühmorgens auf und stellte fest, dass mein Haus wackelte. Ein Krieg tobte und mein fünf Monate alter Sohn schlief in seinem Kinderbettchen. Es gab keine Möglichkeit zu fliehen, und es war nicht viel Geld da. Ich sprach mit meiner Frau, und wir beschlossen, erst einmal zu Hause zu warten. Ich richtete den Keller ein, aber es war sehr kalt. Die Kinder wurden krank.
Später wohnten wir im Keller der Schule. Es war schwierig und beängstigend. Eines Tages wurde bei einem Beschuss ein Bekannter getötet. In diesem Moment beschloss ich, meine Familie zu retten, setzte sie in einen Bus und sie fuhren weg – ich wusste nicht einmal, wohin. Es gab keine Kommunikation, ich wusste nicht, wie es ihnen ging.
Nach einer Weile wurde die Gegend, in der wir lebten, besetzt. Ich habe den Keller eine Woche lang nicht verlassen, Menschen wurden getötet und bestraft. Es gelang mir, mit meinem letzten Geld auf die Krim zu fliehen. Von dort aus konnte ich Kontakt zu meiner Familie aufnehmen. Sie waren am Leben und das war die Hauptsache. Ich arbeitete in Teilzeit, um Geld aufzutreiben, und kämpfte, um nach Dnipro zu gelangen.
Ich erlebte Terror und Angst, als ich durch die Kontrollpunkte fuhr. Jetzt sind wir zusammen, aber ich werde von Schuldgefühlen geplagt, weil ich das Land nicht verteidige, sondern versuche, meine Familie zu retten.
Meine älteste Tochter war still und weinte die ganze Zeit, sie weigerte sich, zu essen oder spazieren zu gehen. Sie schaute nur noch auf das Telefon, das alarmierte mich. Ich habe dann psychologische Beratung gesucht, die ein wenig geholfen hat. Und jetzt, nachdem wir in Ihrer Gruppe waren, bemerke ich, dass meine Tochter wieder lebendig wird, sie lächelt und kommt mit Freude zu Ihnen.
Aber ich weiß nicht, wie ich weiterleben soll. Das Haus ist zerstört. Ich weiß nicht, ob meine Eltern noch am Leben sind. Ich habe nachts Alpträume und manchmal bricht die Angst durch und mein Herz schmerzt."
Die Psychologin leistete dem Mann psychologische Ersthilfe. Kunsttherapeutische Übungen und Atemübungen beruhigten und stabilisierten den Mann.
Über die psychosoziale Hilfe von IsraAID Germany
8.687 Anrufe gingen im Jahr 2022 bei der psychosozialen Hotline von IsraAID Germany ein – Tag und Nacht. Die Hotline ist rund um die Uhr erreichbar. Die meisten Menschen riefen aus dem Osten der Ukraine und den besetzten Gebieten an. Außerdem arbeiten mobile Teams in Zufluchtsstätten mit geflüchteten Menschen im Land. Das Ziel: Trauma- und Stressbewältigung für diejenigen, die so viel verloren haben.
IsraAID Germany ist Partner unserer Bündnisorganisation ZWST. Insgesamt sind 21 Hilfsorganisationen von Aktion Deutschland Hilft am Einsatz in der Ukraine beteiligt. Sie leisten seit mehr als einem Jahr Hilfe – und das geht nur dank Ihrer Spende. Vielen Dank an alle, die helfen.
+++ Spendenaufruf +++
Aktion Deutschland Hilft, Bündnis der Hilfsorganisationen,
bittet dringend um Spenden für die betroffenen Menschen aus der Ukraine.
Stichwort: Nothilfe Ukraine
IBAN DE62 3702 0500 0000 1020 30, BIC: BFSWDE33XXX
Jetzt online spenden!