von Aktion Deutschland Hilft
Unabhängig davon, wie lange der Krieg in der Ukraine noch dauert, wird die Bevölkerung für viele Jahre mit explosiven Überresten wie Blindgängern leben müssen.
Kaitlin Hodge und Olga Savchenko arbeiten für unsere Bündnisorganisation Handicap International (HI) vor Ort. Im Interview sprechen sie über die Herausforderungen für Zivilist:innen und Hilfsorganisationen sowie die Projekte, mit denen sie die Menschen heute und in Zukunft unterstützen.
Aktion Deutschland Hilft: Wie groß ist die Gefahr durch Explosivwaffen und Kriegsreste in der Ukraine?
Kaitlin Hodge: Es ist wichtig zu wissen, dass der Krieg in der Ukraine nicht erst 2022 begonnen hat, sondern bereits 2014. Schon seit 2014 werden große Mengen an Minen und anderen Kampfmitteln in umkämpften Gebieten zurückgelassen. Das verursacht Tod und Verletzungen unter der Zivilbevölkerung – also Menschen, die nichts mit dem Krieg zu tun haben.
Seit Februar 2022 hat sich die Lage durch Luftangriffe in praktisch allen Regionen des Landes verschärft. Und die Waffen werden immer raffinierter. Es gibt improvisierte Typen, aber auch professionelle Typen, die selbst für Experten schwer zu erkennen und dementsprechend schwer zu beseitigen sind.
Wie stellt sich die Situation im Vergleich zu Ländern wie Syrien dar, in denen seit vielen Jahren Krieg herrscht?
Hodge: Für einen solchen Vergleich ist es noch zu früh, denn derzeit finden in vielen Regionen der Ukraine noch schwere Kämpfe statt. Nach Angaben des Büros des Hochkommissars für Menschenrechte wurden in den vergangenen 14 Monaten fast 800 Zivilisten durch Sprengkörper getötet oder verletzt. Hinzukommen mehr als 20.000 Menschen, die durch Sprengkörper wie Raketen, Artillerie oder Drohnen in bewohnten Gebieten getötet oder verletzt wurden.
Schon vor 2022 war der Osten der Ukraine stark durch Kampfmittel kontaminiert. Wir kennen das aktuelle Ausmaß nicht, da viele Regionen für humanitäre Helfer nicht zugänglich sind. Dieses fehlende Wissen birgt natürlich große Gefahren.
Was wir aber wissen: Auf schätzungsweise 160.000 Quadratkilometern Land wurde gekämpft. Das entspricht der Hälfte von Deutschland. Sollte dieses Gebiet vollständig kontaminiert sein, wäre die Ukraine das flächenmäßig am stärksten betroffene Land der Welt.
Vor welchen Herausforderungen stehen Hilfsorganisationen wie HI im Moment?
Olga Savchenko: Eine große Herausforderung ist der Zugang zu Gebieten, in denen Kämpfe stattgefunden haben oder noch stattfinden. In Gebieten, in denen gekämpft wird, können wir aus Sicherheitsgründen keine Schulungen für Zivilisten abhalten – obwohl das dort natürlich besonders wichtig wäre.
Wir versuchen, die Menschen mit Online-Diensten zu erreichen. Aber auch das ist oft herausfordernd. Im Raum Charkiw sind nach den Kämpfen viele Stromleitungen beschädigt. Doch die Kontaminierung macht eine Reparatur ohne Entminung unmöglich.
Häufig müssen wir unsere Schulungen wegen Luftalarm unterbrechen, damit sich alle Teilnehmer in Sicherheit bringen können. Ein weiteres Problem ist die Planung. Wir müssen sehr flexibel sein und unsere Projekte immer an die aktuellen Entwicklungen anpassen.
Wie unterstützt HI die Menschen in der Ukraine heute? Und wie lange wird diese Unterstützung nötig sein?
Hodge: Mindestens für Jahrzehnte. In Kambodscha zum Beispiel, wo der Konflikt in den 70er und 80er Jahren stattfand, gibt es heute noch Kriegsreste. In der Ukraine stehen wir erst am Anfang. Die Menschen hier werden einen Weg finden müssen, mit der Kontamination zu leben. Wie können sie weiterhin ihre Felder bestellen und ihren Lebensunterhalt bestreiten? Und wie können sie sich dabei schützen?
Im Moment konzentriert sich Handicap International darauf, weitere Opfer zu verhindern. Wir führen zum Beispiel Sensibilisierungskurse durch, in denen wir über die Gefahren aufklären. Wir erklären den Zivilisten, wie sie gefährliche Gebiete erkennen können und was sie tun sollten, wenn sie doch hineingeraten.
Explosivwaffen sind Waffen, die bei Kriegen und Konflikten eingesetzt werden und Sprengstoff explodieren lassen.
Es gibt unterschiedliche Typen von Explosivwaffen: Raketen, Granaten, Sprengfallen, Mörserbomben, Landminen und Streumunitionen fallen darunter. Die Auswirkungen der Waffen sind immens: Sie können einzelne Ziele oder ganze Gebiete, mehrere Menschen, Gebäude und Infrastruktur treffen und zerstören.
Eine große Zahl von Toten und Verletzten, Traumata, zerstörte Infrastruktur und große kontaminierte Flächen - die humanitären Folgen der Explosivwaffen sind dramatisch. Und die Gefahr von explosiven Kriegsresten ist groß. Sie können das Leben der Menschen in der betroffenen Region auch viele Jahre nach Ende des Krieges stark beeinträchtigen.
Luftangriffe finden überall im Land statt – auch dort, wo Zivilisten leben, was absolut inakzeptabel ist. Ein Teil unserer Hilfe besteht darin, die Menschen auf bewaffnete Gewalt vorzubereiten: Welche Ausrüstung gehört in eine Reisetasche? Wie evakuiert man ein Gebäude? Wie hilft man Menschen mit Behinderungen, die sich nicht allein in Sicherheit bringen können?
Und wie funktioniert das in der Praxis?
Savchenko: Wir arbeiten auf lokaler Ebene mit Erwachsenen, Kindern, Binnenvertriebenen und Rückkehrern. Für sie ist es besonders gefährlich, denn sie waren während der Kämpfe nicht vor Ort und wissen nicht, wo das Militär stationiert war und welche Gebiete sie jetzt meiden sollten.
Oft geht es bei den Schulungen auch um psychosoziale Unterstützung. Viele Menschen erzählen uns von ihren Erlebnissen. Davon, wie ihr Haus aus nächster Nähe beschossen wurde.
Durch die Schulungen lernen die Menschen, wie sie sich und ihre Familien schützen können. Dadurch haben sie das Gefühl, mehr Kontrolle zu haben, und das wirkt sich positiv auf die psychische Gesundheit aus. Ich bin sehr stolz auf unser Team: Wir helfen den Menschen, sich selbst und ihr Leben zu schützen. Das ist das Wichtigste.
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
Savchenko (aus dem Auto zugeschaltet): Heute ist ein typischer Tag, denn als Projektmanagerin verbringe ich viel Zeit im Auto. Mein Team arbeitet in verschiedenen Regionen der Ukraine – und das Land ist sehr groß.
Zu meinen Aufgaben gehört die Vernetzung mit lokalen und regionalen Behörden und mit internationalen Organisationen. Außerdem unterstütze ich mein Team dabei, die Schulungen zu organisieren und inhaltlich vorzubereiten. Die Mitarbeiter haben sehr unterschiedliche berufliche Hintergründe. Einige sind selbst geflohen, haben ihre Heimat verloren und können nicht zurückkehren. Es bedeutet ihnen sehr viel, andere Betroffene unterstützen zu können.
"Wir haben alle das gleiche Ziel"
Hodge: Ich gehöre zum internationalen Team und bringe meine Erfahrungen aus anderen Regionen der Welt ein, um Hand in Hand mit den ukrainischen Mitarbeitern wie Olga an der Entwicklung der HI-Projekte und unserer Strategie zu arbeiten.
Von Kiew aus koordiniere ich auch die Zusammenarbeit von HI mit internationalen Organisationen. Wir haben alle das gleiche Ziel: Leben zu retten. Die perfekte Lösung wäre, alle Gefahren zu beseitigen, aber dafür ist es noch zu früh. Doch wir können mit unserer Hilfe nicht warten, bis der Krieg vorbei ist. Die Menschen brauchen heute unsere Unterstützung. Wir haben keine Zeit zu verlieren.
Wie sieht der Alltag der Menschen in der Ukraine im 2. Jahr nach Kriegsbeginn aus?
Savchenko: Sie versuchen, ein normales Leben zu führen. Dennoch wirkt sich der Krieg auf alle Bereiche des täglichen Lebens aus. Viele Kinder können nicht zur Schule gehen, weil es keinen Keller gibt, der als Luftschutzraum geeignet ist. Da es jederzeit zu Angriffen kommen kann und es danach oft Probleme mit der Stromversorgung gibt, sollten die Menschen keine Aufzüge benutzen. Und das Reisen ist sehr aufwendig geworden: Früher konnte man Städte in Polen mit dem Flugzeug erreichen, jetzt muss man 20 Stunden mit dem Zug bis zur Grenze fahren.
Viele Familien befinden sich immer noch in einer Ausnahmesituation. Die Ehefrauen und Kinder sind oft im Ausland. Die Männer und Väter, von denen die meisten früher einen anderen Beruf hatten, sind jetzt beim Militär. Es wird eine große Herausforderung sein, die Familien nach Kriegsende wieder zusammenzuführen, die Häuser, aber auch das gemeinsame Leben wiederaufzubauen.
Hodge: So widerstandsfähig die Menschen in der Ukraine auch sind, man kann die psychische Belastung nicht leugnen. Sie stehen seit über einem Jahr unter Dauerstress. Das ist einer der Gründe, warum HI auch psychosoziale Unterstützung in Gruppen- und Einzelsitzungen anbietet. Der Bedarf ist sehr, sehr groß.
Kaitlin Hodge ist für Handicap International als Spezialistin für Armed Violence Reduction in Kiew tätig. Olga Savchenko arbeitet als Projektmanagerin im Bereich Explosive Ordinance Risk Education im Osten der Ukraine.
Handicap International ist eine von 21 Bündnisorganisationen von Aktion Deutschland Hilft, die seit Beginn des Krieges in der Ukraine für die betroffenen Menschen im Einsatz sind.
Danke an alle, die helfen!
+++ Spendenaufruf +++
Aktion Deutschland Hilft, Bündnis der Hilfsorganisationen,
bittet dringend um Spenden für die betroffenen Menschen aus der Ukraine.
Stichwort: Nothilfe Ukraine
IBAN DE62 3702 0500 0000 1020 30, BIC: BFSWDE33XXX
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