von Aktion Deutschland Hilft
Warum nehmen wir manche Krisen viel stärker wahr als andere? Und warum ebbt das Interesse nach einer gewissen Zeit ab?
Zum zweiten Jahrestag des Krieges in der Ukraine haben wir mit Alexandra Kretschmann genau darüber gesprochen. Sie hat Germanistik, Psychologie und Medienkommunikation studiert und ist bei unserer Bündnisorganisation arche noVa für die Medienarbeit zuständig.
Aktion Deutschland Hilft: Mit der Gewalteskalation in der Ukraine war 2022 plötzlich ein großer Krieg in Europa. Liveticker haben laufend berichtet, alle schienen geschockt. Warum ist das jetzt, zwei Jahre später, nicht mehr so?
Alexandra Kretschmann: Dafür gibt es viele Gründe. Zum Beispiel hat die Komplexität der Krise einen Einfluss. Je simpler die Zusammenhänge, desto leichter sind sie medial darstellbar. Zu Beginn war das in der Ukraine so, aber je länger der Krieg dauert, desto komplexer werden die Hintergründe und die Berichterstattung – und desto aufwendiger wird es, das Ganze zu verfolgen.
Ein weiterer Grund ist das, was man Negativity Bias nennt. Das bedeutet, dass wir unsere Aufmerksamkeit bevorzugt auf negative Inhalte richten, weil wir sie als besonders intensiv wahrnehmen. Unser Gehirn sagt: Negative Informationen sind wichtig, weil sie uns vor Gefahren schützen. Dass das Interesse an der Krise in der Ukraine abnimmt, hängt also auch damit zusammen, dass unser Bedürfnis nach diesen intensiven Gefühlen und nach Skandalismus irgendwann nicht mehr befriedigt wird.
Und dann müssen neue negative Nachrichten her?
Genau. Wenn es über eine Krise nicht ständig Neuigkeiten gibt, die uns auf diese emotionale Art und Weise wie am Anfang berühren, kommt es zu einer Art Gewöhnungseffekt. Die Krise nutzt sich sozusagen ab. Wir nehmen sie als Status quo an, unser Interesse nimmt ab und eine andere negative Nachricht bekommt unsere Aufmerksamkeit.
Also hat man sozusagen weniger Angst, weil man sich an den Zustand gewöhnt hat?
Ja. Die Angst war vor allem im Fall der Ukraine ein wichtiger Punkt. Es ist ein Krieg an die Grenzen der EU gerückt. Anfangs war nicht klar, wie sich die Lage entwickeln wird. Man hatte das Gefühl: Auch ich selbst könnte betroffen sein. Es hat sich alles sehr, sehr nah angefühlt. Auch das hat das starke Interesse am Anfang verstärkt. Man wollte mitverfolgen, was passiert, um sich sicher zu fühlen und die Kontrolle zu behalten.
Nun dauern die Kämpfe an und sind nicht über die Grenzen der Ukraine hinausgegangen – ein weiterer Grund, warum das Interesse hier nachlässt. Das ist für die Menschen in der Ukraine sehr problematisch, denn der Bedarf an humanitärer Hilfe ist groß und wird mit fortschreitender Dauer und Zerstörung im Land immer größer.
Unser großes Interesse an der Ukraine hatte also auch egoistische Gründe? Weil wir Angst hatten, der Krieg könnte sich ausbreiten?
Genau so tickt unser Gehirn. Es interessiert sich besonders für die Dinge, die potenziell relevant für uns selbst sind. Das ist nicht mal unbedingt ein bewusster Prozess. Die Ukraine stand mit dem Ausbruch des Krieges sozusagen als Sinnbild für die demokratische westliche Welt. Das Thema persönliche Identifikation spielt nämlich eine große Rolle bei der Wahrnehmung von Krisen. Das haben wir als Hilfsorganisation auch bei der Spendenbereitschaft gespürt.
Haben Menschen mehr Mitgefühl, weil sie sich den Ukrainer:innen kulturell näher fühlen, also sich leichter identifizieren können?
Das kann man so sagen. Ein Mensch in Not, der einem selbst ähnlich sieht, der aus demselben Kulturkreis stammt oder unter ähnlichen Umständen lebt wie man selbst, löst potenziell eine intensivere emotionale Reaktion aus. Es fällt leichter, sich in diese Person hineinzuversetzen als in jemanden, der zum Beispiel auf einem anderen Kontinent lebt. Dabei spielt auch internalisierter Rassismus eine Rolle – also rassistische Stereotype, die bewusst oder unbewusst übernommen werden.
Inwiefern?
Ich denke zum Beispiel daran, wie junge arabische Männer oder Frauen mit Hijab teils dargestellt oder beschrieben werden – oft stereotypisch und dadurch auch rassistisch, sodass Vorurteile verstärkt werden und damit die öffentliche Wahrnehmung beeinflusst wird. Denn genau diese rassistischen Stereotype sorgen dafür, dass Menschen weniger empathisch gegenüber diesen Personengruppen sind. Und weniger Empathie bedeutet meistens automatisch auch weniger Interesse an ihrer Notlage. Diese Stereotype verstärken manche Medien auch durch die Art ihrer Berichterstattung.
Welche Rolle spielen die Medien, wenn es um Krisen auf der Welt geht? Warum lesen wir zum Beispiel so wenig über den Putsch im Niger?
Wegen der allgemein sehr selektiven medialen Berichterstattung. Die Medienschaffenden gewichten und sortieren die Nachrichten. Und dadurch haben sie einen starken Einfluss darauf, wie wir Krisen wahrnehmen und welchen Themen wir uns zuwenden – oder eben auch nicht. Medienschaffende haben dadurch eine große Macht und Verantwortung.
Gleichzeitig interessieren sich Menschen eher für das, was in ihrer Nähe passiert und sie betrifft – deswegen berichten Medien vor allem darüber. Klingt ein bisschen wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei ...
Richtig, man schiebt sich sozusagen den Schuldball hin und her. Medienschaffende sagen: Viele Krisen sind nicht von Interesse für die Gesellschaft. Die Menschen wiederum argumentieren: Wie soll ich mich dazu belesen, wenn nicht darüber berichtet wird? Eine komplizierte Sache. Ich finde, es ist an den Medien, zu sagen: Wir berichten nicht nur über die Themen, die aus Gründen von Skandalismus und Emotionalisierung relevant sind und hohe Zuschauer-, Hörer- und Leserzahlen versprechen. Aber Themen zu platzieren, die das nicht tun, ist riskanter, weil weniger erfolgsversprechend.
Weil eine intensive Berichterstattung über die Hungerkrise in Sambia für Leser:innen erst mal nicht so berührend und damit nicht so interessant wäre wie der Krieg in der Ukraine?
Ja, das würde ich so einschätzen. Alles, was uns weniger betrifft und wir für unsere persönliche Sicherheit als nicht relevant einordnen, fällt leichter durchs Raster. Natürlich können internationale Katastrophen auch in Deutschland auf großes Interesse und große Hilfsbereitschaft stoßen.
Zum Beispiel das Erdbeben in der Türkei und in Syrien im Februar 2023. Da war die öffentliche Aufmerksamkeit sehr groß – aber nur kurz, als Medien emotional darüber berichten konnten. Danach ist das Interesse schnell wieder erloschen. Und das, obwohl die Menschen in Syrien seit über einem Jahrzehnt in einer humanitären Krise stecken, die sich mit dem Erdbeben noch verschlimmert hat.
Wie geht es besser?
Indem anders berichtet wird. Die Not der betroffenen Menschen sollte nicht nur plakativ beschrieben und sozusagen ausgeschlachtet werden. Es geht mehr ums große Ganze. Was ist der Kern des Problems, gibt es dafür Lösungsansätze oder gibt es vielleicht sogar schon positive Entwicklungen? Mit diesem konstruktiven Journalismus bliebe mehr Raum für aktuell wenig präsente Krisen wie die Überschwemmungen in Somalia, die wachsende Armut im Libanon oder die Folgen der globalen Erwärmung in Äthiopien. Und Menschen könnten sich dann viel leichter und selbstverständlicher darüber informieren.
Und müssen es dann aber auch wollen?
Natürlich ist es auch an uns allen, zu überdenken, wie wir Medien konsumieren, damit diese Nachrichten dann auch auf fruchtbaren Boden treffen. Für uns als humanitäre Hilfsorganisation wäre dieser Wandel jedenfalls eine große Unterstützung. Denn wenn mehr über vergessene Krisengebiete berichtet wird, wissen mehr Menschen über die Notlage Bescheid, spenden potenziell mehr – und wir können vor Ort mehr Hilfe leisten.
Unsere Bündnisorganisation arche noVa unterstützt Menschen überall auf der Welt, die durch Krisen, Konflikte und Naturkatastrophen in Not geraten sind. Und arche noVa ist eine von 21 Bündnisorganisationen von Aktion Deutschland Hilft, die für die Menschen in der Ukraine im Einsatz sind. Die Helfer:innen verteilen Hilfsgüter, machen mit kleineren Reparaturen beschädigte Häuser wieder bewohnbar und winterfest und beteiligen sich an der Wiederherstellung von kommunaler Wasser- und Abwasserversorgung.
Unser Bündnis leistet seit Beginn des Krieges Hilfe – das ist nur dank Ihrer Spende möglich. Vielen Dank!
+++ Spendenaufruf +++
Aktion Deutschland Hilft, Bündnis der Hilfsorganisationen,
bittet dringend um Spenden für die betroffenen Menschen aus der Ukraine.
Stichwort: Nothilfe Ukraine
IBAN DE62 3702 0500 0000 1020 30, BIC: BFSWDE33XXX
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