von Aktion Deutschland Hilft
Im Jemen geschieht laut den Vereinten Nationen die "größte humanitäre Katastrophe weltweit" – und das größtenteils abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit. Am 26. März 2023 jährt sich der Beginn des Krieges zum achten Mal.
Evani Debone arbeitet als Koordinatorin unserer Bündnisorganisation ADRA im Jemen. Im Interview spricht sie über den Alltag der Menschen, ihre Arbeit und Hoffnungsschimmer.
Aktion Deutschland Hilft: Von April bis Oktober 2022 herrschte im Jemen Waffenstillstand. Bisher gibt es kein neues Abkommen. Wie ist die aktuelle Lage vor Ort?
Evani Debone: Wir hoffen hier weiter auf ein neues Abkommen. Für humanitäre Hilfsorganisationen und die Bevölkerung wäre ein Waffenstillstand so wichtig. Noch wichtiger wäre natürlich Frieden. Bei der jüngsten Geberkonferenz wurde erneut deutlich, dass auch die internationale Gemeinschaft keine andere Lösung für den Konflikt sieht.
Wir können den Menschen im Jemen mit unseren Projekten zwar helfen. Aber ein normales Leben können sie nur führen, wenn Frieden herrscht.
Welche Bedeutung hatte der Waffenstillstand?
Es herrschte eine Art Frieden. Kinder hatten keine Angst mehr, zur Schule zu gehen. Wir fühlten uns etwas sicherer dabei, unserer Arbeit nachzugehen. Wir konnten Regionen besuchen, die davor schwierig zu erreichen waren. Dadurch haben mehr Menschen Hilfe erhalten. Und in Konfliktregionen hatten mehr Menschen die Möglichkeit, in andere Teile des Landes zu fliehen, ohne dabei zwischen die Fronten zu geraten.
Ein weiteres Ereignis im vergangenen Jahr, das sich auch auf den Jemen ausgewirkt hat, ist der Krieg in der Ukraine ...
Vor Beginn des Krieges in der Ukraine kam ein großer Teil der Nahrung für die Menschen im Jemen aus der Ukraine. Es ist traurig: Das eine Land war auf das andere angewiesen und nun sind beide von Krieg betroffen.
Nun haben die Menschen im Jemen auch mit der Wirtschaftskrise und der Inflation zu kämpfen. Viele haben keine Arbeit. Deshalb verkaufen sie zum Beispiel ihre Häuser, um sich Nahrung leisten zu können. Und die, die einen Job haben, haben trotzdem nicht genug Geld für die einfachsten Dinge.
Doch die Menschen machen weiter mit ihrem Leben. Die, die irgendwie die Möglichkeit dazu haben, bauen Häuser, heiraten, studieren, gehen zur Schule. Natürlich nicht im gleichen Umfang wie Menschen, die in Frieden leben. Aber sie machen weiter, so gut es eben geht. Ich habe noch nie so widerstandsfähige Menschen erlebt wie im Jemen.
Doch in der Öffentlichkeit erfährt man sehr wenig über das Leben dort…
Die Möglichkeiten der Menschen aus dem Jemen, ihre Stimmen gegenüber der Welt hörbar zu machen, sind begrenzt. Es gibt kaum Staaten, die ihnen Asyl gewähren. Es gibt kaum Straßen, auf denen sie das Land verlassen können. In den Wüsten, die sie durchqueren müssten, wird gekämpft. Sie können nicht in einen Bus oder ein Flugzeug steigen, die sie in Sicherheit bringen.
Hinzu kommt, dass der Krieg hier von sehr viel weniger Menschen wahrgenommen wird als zum Beispiel der Krieg in der Ukraine. Die Medienberichterstattung ist nicht ausgeglichen. Das zeigt etwa die Google-Suche: Es gibt sehr viel mehr Ergebnisse für "Krieg Ukraine" als für "Krieg Jemen" (Anm. d. Red. Jemen: 1.340.000 Ergebnisse; Ukraine: ca. 120.000.000; Stand 20.03.2023). Dabei dauert der Krieg im Jemen acht Jahre länger.
Auch die Finanzierung der humanitären Hilfe ist unausgeglichen. Es gibt so viele Katastrophen auf der Welt – zuletzt die schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien. Es gibt so viele Menschen, die Hilfe benötigen. Aber es haben doch alle Menschen die gleiche Unterstützung verdient.
Was muss geschehen, damit der Jemen mehr Aufmerksamkeit erhält?
Wir müssen eine Plattform für die Menschen schaffen und für sie berichten, was im Land passiert, welche Probleme es gibt. Solange, bis die Menschen für sich selbst sprechen können.
Es gibt so vieles, das sich im Jemen ändern muss. Regierungen, die Gelder für den Jemen bereitstellen, müssen sich für weitere Geberkonferenzen und Friedensverhandlungen einsetzen. Die Gespräche müssen weitergehen. Druck von außen kann ein großer Einfluss auf die Konfliktparteien haben.
Wichtig ist auch, dass wir weiterhin Geld erhalten, um die Zivilbevölkerung unterstützen zu können. Zuletzt wurden viele Mittel gekürzt. Viele Hilfsorganisationen müssen nun entscheiden, welche Projekte weiterlaufen. Das sind sehr harte Entscheidungen: Jeder Mensch ist gleich durstig, gleich hungrig. Wie sollen wir da solche Entscheidungen treffen? Stattdessen sollten wir uns darauf zu konzentrieren können, wie wir langfristige Perspektiven für die Menschen schaffen.
ADRA ist seit 27 Jahren im Jemen aktiv. Wie unterstützt Ihre Organisation die Menschen aktuell?
Wir sind im Norden und Süden aktiv, in insgesamt zwölf Gouvernements. 2022 haben wir mit unseren Projekten mehr als 1,5 Millionen Menschen erreicht. Wir ermöglichen ihnen zum Beispiel Zugang zu Gesundheitsversorgung, zu Trinkwasser und Nahrung. Ein großer Teil der Hilfe richtet sich an unterernährte Kinder.
Viel Infrastruktur ist durch den Krieg zerstört worden. Wir unterstützen den Wiederaufbau von Gesundheitseinrichtungen und Krankenhäusern. Es gibt nach den vergangenen Jahren sehr viele Menschen, die psychologische Unterstützung brauchen.
Ein weiteres Ziel ist, die Menschen langfristig unabhängig von humanitärer Hilfe zu machen. Dafür unterstützen wir zum Beispiel Landwirte, ihren Ertrag zu vergrößern, und Frauen, die ihre Männer im Krieg verloren haben, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften.
Obwohl so viel zu tun ist, herrscht in unserem Team viel Optimismus und Tatendrang. Damit unsere Arbeit langfristig wirkt, ist ein Friedensabkommen entscheidend.
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
Wir arbeiten fast 24/7 – so ist das in der Nothilfe. Jeder Tag ist anders. Das Hauptziel meiner Arbeit ist, dass die Geschichten der Menschen aus dem Jemen gehört werden. Am liebsten besuche ich Projekte, spreche mit den Menschen persönlich. Alle sind mir gegenüber – einer Frau aus Paraguay – sehr neugierig und freundlich.
Wie ist es für Sie als Frau im Jemen zu leben und zu arbeiten?
Das Leben als Frau ist das Eine. Das Andere ist, in einem Land zu leben, in dem Krieg herrscht. Ich kann mich hier nicht mit Freunden in einem Restaurant treffen und nach Hause kommen, wann ich will. Für humanitäre Helfer bestehen große Sicherheitsbeschränkungen.
Die Kultur in meiner südamerikanischen Heimat ist fast das genaue Gegenteil zur arabischen Welt. Meine Garderobe, mich zu verschleiern, war eine große Veränderung. Aber es ist wichtig, sich der Kultur anzupassen und auch, um aus Sicherheitsgründen nicht aufzufallen. Noch herausfordernder ist der Alltag aber für meine jemenitischen Kolleginnen.
Haben Sie da ein Beispiel?
Jemenitische Frauen, die etwa als Ärztinnen oder Koordinatorinnen in der humanitären Hilfe arbeiten, können ihrer Arbeit in Projekten nur nachgehen, wenn sie dabei von einem männlichen Familienmitglied begleitet werden – die ganze Zeit über.
Oft sind die Projektgebiete weit entfernt und nur mit dem Flugzeug zu besuchen. Nicht jede dieser Frauen hat ein Familienmitglied, das dafür Zeit hat. Manchen blieb nichts anderes übrig als zu kündigen. Frauen sind in der humanitären Hilfe so wichtig, wenn es zum Beispiel um die Versorgung von Schwangeren geht. Meine Kolleginnen wollen unbedingt arbeiten. Wir arbeiten gerade mit mehreren Hilfsorganisationen daran, eine Lösung mit den Behörden zu finden.
Sie leben seit vier Jahren im Jemen. Was für ein Land haben Sie kennengelernt?
Ich lebe in Aden, im Süden des Landes. Ich hatte das Glück, auch den Norden besuchen zu können. Ich war in Sana’a, einer der ältesten Städte der Welt. Es ist wunderschön dort. Die Altstadt zählt zum Weltkulturerbe, ist also dafür gemacht, von der Welt gesehen zu werden. Früher gab es ja auch viel Tourismus im Jemen.
Heute weiß die Welt nur sehr wenig über den Jemen. Wenn die Menschen an den Jemen denken, denken sie an den Krieg. Dabei hat das Land so viel Geschichte, so viele Ressourcen. Es könnte sich sogar selbst versorgen, wichtige Güter selbst produzieren und exportieren.
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I wish people could see how beautiful Yemen is pic.twitter.com/kryRkE7hf2
— Evani Debone (@evanydebone) March 3, 2023
Bei all diesen Problemen, von denen Sie umgeben sind: Gibt es Dinge, die Ihnen Hoffnung machen?
Die Menschen, ihre Stärke und ihre Widerstandsfähigkeit machen mir Hoffnung. Dass Eltern ihre Kinder zur Schule schicken, sobald es irgendwie möglich ist. Dass junge Menschen ein Studium beginnen, obwohl sie nicht wissen, wie die Lage in einem Jahr sein wird. Dass ein Vater jeden Tag Holz sammelt, um es an Restaurants zu verkaufen, obwohl er weiß, dass das Geld trotzdem nicht reichen wird, um genug Essen für seine Kinder zu haben.
Die Menschen warten nicht darauf, dass von irgendwo Hilfe kommt. Sie strengen sich wirklich an, ihr Leben voranzubringen. Es geht ihnen nicht um Wohlstand, es geht darum, zu überleben. Ich bin mir sicher: Wenn Frieden herrscht, die grundlegenden Bedürfnisse gestillt sind, werden im Jemen großartige Dinge geschehen.
Evani Debone arbeitet seit vier Jahren für ADRA im Jemen. Sie ist dort als Koordinatorin für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Zuvor war Debone auch in Mosambik, Tunesien und ihrer Heimat Paraguay für ADRA tätig.
ADRA ist eine der Bündnisorganisationen von Aktion Deutschland Hilft, die aktuell für die Menschen im Jemen aktiv sind.
Aktuell leisten elf Bündnisorganisationen von Aktion Deutschland Hilft den Menschen im Jemen humanitäre Hilfe. Helfen Sie uns, zu helfen – jetzt mit Ihrer Spende!
+++ Spendenaufruf +++
Aktion Deutschland Hilft, Bündnis der Hilfsorganisationen,
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