von Alexandra Endres, ZEIT ONLINE
Der Klimaforscher Saleemul Huq hat sein Berufsleben einer Frage gewidmet: Wie können sich besonders verletzliche Länder an die Auswirkungen des Klimawandels anpassen?
In seinem Heimatland Bangladesch kommt es häufig zu Überschwemmungen. Früher seien dabei viele Menschen gestorben, sagt Huq. Heute nicht mehr. Wie hat man das geschafft?
ZEIT ONLINE: Herr Huq, Sie haben kürzlich gesagt, die Welt sei in ein Zeitalter der Zerstörung eingetreten. Was meinen Sie damit?
Saleemul Huq: Der Klimawandel richtet große Zerstörungen an. Menschen sterben durch ihn oder verlieren ihren Besitz. Mittlerweile lässt sich wissenschaftlich klar belegen, dass extreme Wetterereignisse nicht mehr einfach nur ein natürliches Schicksal sind. Der menschengemachte Klimawandel ist dafür verantwortlich. Wir haben die Wettersysteme verändert – das hat es in der Menschheitsgeschichte nie zuvor gegeben.
In Ihrem Heimatland Bangladesch kommen heftige Stürme, Starkregen und Überschwemmungen häufig vor.
Wir in Bangladesch und in anderen Entwicklungsländern wissen schon lange, dass dies der Klimawandel ist. Aber man hat uns nicht geglaubt. Bis jetzt haben es viele immer noch angezweifelt. Ich denke, die Hochwasserkatastrophe in Deutschland hat diese Debatte beendet.
Nicht nur Deutschland hat verheerende Fluten erlebt. Zuletzt gab es innerhalb weniger Tage auch schwere Überschwemmungen in China, Indien und Uganda. Im Westen der USA und Kanada litten die Menschen vor Kurzem noch unter extremer Hitze. Müssen wir damit rechnen, dass solche Wetterextreme in Zukunft alltäglich werden?
Meine Prognose ist, dass an jedem einzelnen Tag irgendwo auf dem Planeten ein Wetterrekord gebrochen wird. Sei es durch Hitze, Regen, Hochwasser oder durch einen Wirbelsturm. An jedem einzelnen Tag. Während der Hitzewelle im Nordwesten der USA und in Kanada wurde der Temperaturrekord jeden Tag erneut gebrochen. Hunderte Menschen starben. Das ist jetzt die Zukunft. Wir befinden uns in einer Notlage. Das müssen wir akzeptieren, damit wir uns vorbereiten und etwas dagegen tun können.
Wie können sich die Menschen vor Extremwettern schützen?
Das wissen wir schon lange, aber wir handeln nicht danach. Als Erstes müssen wir die Treibhausgasemissionen senken. Die globale Temperatur ist bereits um 1,2 Grad gestiegen und die Folgen sehen wir gerade. Im Moment bewegen wir uns auf eine Erwärmung von deutlich über zwei Grad zu. Die Auswirkungen werden katastrophal sein.
Also müssen wir alle mehr für den Klimaschutz tun, und zwar schnell – auch Deutschland. Im zweiten Schritt müssen wir uns besser auf die extremen Wetterereignisse vorbereiten. In Deutschland sind mehr als 170 Menschen durch die Überschwemmungen gestorben. In Bangladesch wäre das nicht passiert. Diese Menschen hätten nicht sterben müssen.
Was kann Deutschland von Bangladesch lernen?
Ihr müsst die Gefahr ernst nehmen. Jeder und jede im Land muss sich der Risiken bewusst sein. Wer in einem Risikogebiet lebt, muss genau wissen, was im Krisenfall zu tun ist.
Wie stellt man in Bangladesch sicher, dass die Menschen Bescheid wissen?
Die Kinder in der Schule lernen, was zu tun ist. Jedes Jahr halten sie eine Hochwasserübung ab. Dann kennen sie die wichtigen Notsignale. Sie wissen, wann ihr Dorf evakuiert werden muss, wer dabei Hilfe braucht, wie man helfen kann und wo sich die Menschen dann versammeln sollen. Wir haben in Bangladesch immer noch häufig Überschwemmungen. Sie richten immer noch große Schäden an. Menschen verlieren ihre Häuser, ihre Felder, ihre Ernten. Aber in der Regel sterben sie nicht mehr.
Vor einem Jahr gab es in Bangladesch einen schlimmen Wirbelsturm. Früher hätten darin hunderttausend Menschen sterben können. Dieses Mal waren es nur einige Dutzend, und es waren alles Fischer, die draußen auf See waren und nicht rechtzeitig wieder an Land gekommen sind. Wir verlieren keine Menschenleben, weil wir es normalerweise schaffen, die Siedlungen rechtzeitig komplett zu evakuieren.
Wer nimmt an den Hochwasserübungen teil? Nur die Schulen?
Alle nehmen teil. Aber die Kinder haben eine ganz besondere Rolle. Sie wissen genau Bescheid. Jedem Kind wird ein Haushalt zugewiesen, um den es sich kümmert. Wenn zum Beispiel eine Witwe im Dorf lebt, die selbst keine Kinder hat, dann hat ein Nachbarskind die Aufgabe, im Blick zu behalten, dass sie im Evakuierungsfall ihr Haus verlässt.
Außerdem gibt es Freiwillige, die an jeder Tür klopfen und die Menschen auffordern, zu gehen. Und ein Dorf zu evakuieren ist unter Umständen gar nicht so leicht. Gerade ältere Menschen wollen häufig nicht gehen. Sie sagen: Das haben wir doch schon öfter erlebt, wir bleiben. Dann müssen die anderen sie überzeugen, doch mitzukommen.
Man kann Warnungen nur ernst nehmen, wenn man sie auch versteht. Wie sind die Warnmeldungen in Bangladesch formuliert?
Wir schicken abgestufte Warnungen in einer Skala von eins bis zehn auf die Mobiltelefone. Die Stufe sieben bedeutet: Verlasst euer Haus und sucht Schutz! Fast jeder in Bangladesch besitzt ein Mobiltelefon, die Botschaft kommt also an. Wer ein Smartphone hat, kann darüber hinaus die Satellitenbilder der aktuellen Wirbelstürme verfolgen und weiß, wann sie da sein werden – und wie viel Zeit noch bleibt, um einen sicheren Ort zu erreichen. Viele Menschen nutzen diese Möglichkeit.
Angenommen, ich lebe in Bangladesch und muss mein Haus verlassen, weil Hochwasser kommt. Wo finde ich Schutz?
Normalerweise ist der sichere Unterschlupf ein paar Stunden Fußmarsch entfernt. In Deutschland wird das anders sein. Aber auch hier kommt es darauf an, frühzeitig zu warnen. Dann können die Menschen ihre Besitztümer in Sicherheit schaffen, zum Beispiel ihre Autos an einer erhöhten Stelle parken, oder wertvolle Gegenstände aus dem Erdgeschoss in den zweiten oder dritten Stock bringen. Und sie können rechtzeitig selbst woanders Zuflucht suchen.
Kann man Bangladesch und Deutschland überhaupt vergleichen? Geografie und Wetterverhältnisse sind sehr unterschiedlich.
Offensichtlich gibt es viele Unterschiede. Aber wir haben alle etwas Großes gemein: Wir sind alle Menschen. Wenn Menschen informiert und unterstützt werden, damit sie sich selbst helfen können, dann werden sie Vorsichtsmaßnahmen treffen, um das Schlimmste zu verhindern. Ganz sicher werden sie nicht sterben wollen. Das trifft in Deutschland ebenso zu wie in Bangladesch, für tropische Wirbelstürme wie für Überschwemmungskatastrophen.
Haben Sie in Bangladesch wegen der häufigen Überschwemmungen Siedlungsgebiete aufgeben müssen?
Wir bauen Dämme zum Schutz der Siedlungen, doch viele Menschen leben außerhalb der geschützten Zone, weil sie arm sind. Aber sie kennen das Risiko. Sobald sie eine Warnung erhalten, suchen sie Schutz – und sie sterben nicht. Sie mögen ihren Besitz verlieren, ihre Häuser und Ernten, und natürlich bringt sie das in große Schwierigkeiten. Aber sie überleben. Auch in Deutschland hätten die Menschen überleben müssen.
Auf den UN-Klimagipfeln fordern die Länder des Globalen Südens seit Jahren eine Anerkennung der durch den Klimawandel verursachten Schäden und auch eine finanzielle Kompensation. Aber es geht kaum voran – vielleicht, weil die reichen Länder bisher immer dachten, der Klimawandel würde sie selbst nicht so hart treffen. Was erwarten Sie vom im November anstehenden UN-Klimagipfel in Glasgow?
Wir erwarten, dass die Weltgemeinschaft – deutsche Staatsbürger eingeschlossen – anerkennt, dass dies ein globales Problem ist und dass wir alle solidarisch zusammenarbeiten müssen, um es zu bewältigen. Bangladesch hilft Deutschland gern dabei, sich künftig besser vor Wetterextremen zu schützen.
Da ihr ein wohlhabendes Land seid und wir bereits sehr unter dem Klimawandel leiden, solltet ihr darüber nachdenken, uns ebenfalls zu helfen – mit Geld. Wir fordern das schon seit Jahren. Aber bisher ist Deutschland in den UN-Klimaverhandlungen nicht darauf eingegangen. Das muss sich ändern. Die Überschwemmungen in Deutschland sollten euch veranlassen, eure Position zu ändern.
Was fordern Sie konkret?
Die Industriestaaten haben 2009 auf dem Klimagipfel in Kopenhagen zugesagt, ab 2020 jährlich 100 Milliarden Dollar zu geben, damit die armen Länder sich an die Erderwärmung anpassen können. Bisher haben sie ihr Versprechen nicht gehalten. Und sie lehnen es ab, über Finanzhilfen für Verluste und Schäden auch nur zu sprechen.
Das wird auf dem Gipfel in Glasgow ein großes Thema werden. Ich denke, wenn wir es nicht schaffen, darüber zu reden und eine Lösung zu finden, ist der Klimagipfel gescheitert.
Wenn es in den vergangenen Jahren keine Fortschritte gab, warum sollte das in diesem Jahr anders sein?
Die Ereignisse haben gezeigt, wie sehr der Klimawandel uns alle schon trifft. Die ganze Welt hat sich verändert und wir müssen einen Weg finden, damit umzugehen. Aber ich bezweifle auch, dass die Klimagipfel dafür das richtige Instrument sind. Sie finden einmal im Jahr statt. Das reicht nicht. Wir müssen jeden einzelnen Tag etwas dafür tun, uns in der neuen Welt zurechtzufinden.
Nach der Klimakonferenz von Madrid haben Sie angekündigt, die UN-Klimagipfel nicht mehr zu besuchen. Bleiben Sie dabei?
Nein, ich möchte nach Glasgow kommen, wenn ich kann. Die Klimakrise muss künftig tatsächlich wie eine Krise behandelt werden, dafür will ich mich einsetzen.
Wie groß schätzen Sie Ihre Chancen ein?
Wir werden sehen. Ich habe immer Hoffnung.
Der Klimaforscher Saleemul Huq stammt aus Bangladesch und lebt heute in London. Huq ist Senior Fellow in der Climate Change Group am International Institute for Environment and Development (IIED) und Direktor des International Centre for Climate Change and Development (ICCCAD). 2020 zeichnete in die Regierung von Bangladesch mit dem National Environment Award aus.
Dieses Interview wurde am 28. Juli 2021 auf ZEIT ONLINE veröffentlicht.
Wir danken ZEIT ONLINE und der Autorin Alexandra Endres, die uns den Text zur Verfügung gestellt haben, für die Unterstützung.
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