von Harald Schumacher, WirtschaftsWoche
Hunderte Millionen Euro Spenden sind an die Opfer der Flutkatastrophe zu verteilen. Welche Rolle Vermögen, Versicherungsstatus und Missbrauchskontrolle spielen, erklärt Ingo Radtke. Er ist der Flutbeauftragte der Malteser, einer Bündnisorganisation von Aktion Deutschland Hilft.
WirtschaftsWoche: Herr Radtke, mehr als eine halbe Milliarde Euro privater Spenden sind nach der Flut in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen bei den Hilfsorganisationen eingegangen. Wie sorgen Hilfsorganisationen wie die Malteser für Fairness und Transparenz bei der Verteilung dieser Gelder?
Ingo Radtke: Bei der Soforthilfe zahlen wir pro Haushalt 2.500 Euro als Handgeld aus, damit Menschen, denen das Wasser den kompletten Hausrat zerstört hatte, die Dinge bezahlen können, die ihnen im Moment nach ihrem eigenen Ermessen am meisten weiterhelfen. Bei der Ermittlung der Betroffenen stimmen wir uns eng mit den Ortsbürgermeister:innen ab, da diese am ehesten wissen, wer in ihrer Gemeinde betroffen ist. Außerdem tauschen wir uns zwischen den Hilfsorganisationen aus, um uns einerseits nicht zu doppeln, andererseits alle Orte abzudecken.
Werden auch Schäden an Gebäuden bis hin zum Totalverlust aus Spendengeldern bezahlt?
Ja, denn wer keine Elementar-Versicherung hat, kriegt vom Bund nur 80 Prozent der Kosten ersetzt, um Haus und Hof wieder herzurichten. Wir kümmern uns, wenn Bund und Land und Versicherung gezahlt haben und trotzdem eine Lücke bleibt zur Vollfinanzierung des Schadens. In der Zwischenzeit müssen wir uns darum kümmern, dass insbesondere für die Menschen, deren Wohnung nicht winterfest gemacht werden kann, vernünftige Unterkünfte beschafft werden.
Welche Rolle spielt dabei die Vermögenslage der Geschädigten und andere Faktoren?
Die Unterstützung beim Wiederaufbau soll zügig auf den Weg gebracht werden. Dennoch nehmen wir alle Anträge gründlich unter die Lupe. Bei den weiterführenden Anträgen wird die Lage des Hauses einbezogen, die Antragssteller müssen ihre Vermögenslage offenlegen. Um die genauen Bedarfe zu ermitteln, müssen zunächst eventuelle Versicherungsleistungen und die staatlichen Hilfen berücksichtigt werden. Bei dem verbleibenden Eigenanteil können wir dann gemäß der gesetzlichen Vorgaben unterstützen. Hierzu können die Betroffenen einen Antrag auf Unterstützung aus Spendengeldern stellen.
Wer noch was auf der hohen Kante hat, bekommt also weniger Hilfe?
Die Prüfung des Antrags beginnt immer mit einer Bedürftigkeitsprüfung, das heißt, wir müssen feststellen, ob es für die Betroffenen zumutbar ist, alles oder zumindest einen Teil der Restfinanzierung aus eigenem Vermögen zu leisten. Letztlich ist das eine Frage der Solidarität mit den Schwächeren, die ohne Unterstützung nicht klar kommen können.
Was sagen Sie Betroffenen, die sich im Vergleich zum Nachbarn ungerecht behandelt fühlen bei der Vergabe der Spendenmittel?
Natürlich versuchen wir alle, die Hilfen gerecht an die Betroffenen zu verteilen. Dafür werden auch alle Instrumente und Prüfungen eingesetzt, die sinnvoll sind.
Aber mancher hat jahrelang für eine teure Elementarschadenversicherung bezahlt, die ihn nun vor horrenden Kosten rettet - und dem unversicherten Nachbarn zahlen die Malteser den Wiederaufbau von Haus und Hof.
Die Frage nach der Versicherung stellen wir uns nicht, weil es um Bedürftigkeit geht. In einem Ortsteil von Bad Neuenahr zum Beispiel habe ich mit einem jungen Ehepaar gesprochen. Die Leute haben mit viel Eigenleistung gerade ihr Haus gebaut, müssen ihr Baudarlehen abbezahlen - und nun ist es nach der Überflutung schwer beschädigt. Denen zu sagen: Ihr bekommt nichts, weil ihr keine Elementarschadenversicherung habt, das wäre total zynisch. Zur Solidarität gehört, dass wir denen helfen, die die Finanzierungslücke nicht schließen können.
Manche Ökonomen finden es grundsätzlich ungerecht, dass die einen Hausbesitzer auf eigene Kosten selbstverantwortliche Versicherungs-Vorsorge betreiben, die anderen aber mit Staat und Spenden am Ende aber genauso gestellt werden, als hätten sie diese Versicherung auch abgeschlossen.
Einer unterversicherten Familie die Existenz zu retten, das ist nicht ungerecht, nur weil nebenan jemand diese Rettung nicht nötig hat. Gerade weil in schicksalhaften und existenziellen Situationen nach einer Naturkatastrophe die üblichen Maßstäbe und Systeme nicht ausreichen, geben Menschen doch Geld für andere. Die Spender erwarten, dass wir ihr Geld mit Verstand und kontrolliert weitergeben - aber auch mit Herz. Die Spender würden uns zurecht verurteilen, wenn wir die Unversicherten mit dem Hinweis "selber schuld" von der Spendenzuwendung ausschlössen.
Im Kern wollen wir dafür sorgen, dass obdachlos gewordene Menschen wieder ein Dach über dem Kopf haben und ihre Lebensqualität wieder erreichen können. Das schließt auch Zusatzkosten ein, die zu einem besseren Schutz in der Zukunft beitragen, wie zum Beispiel für eine Rückstauklappe, die beim nächsten Hochwasser den Keller trocken hält. Wenn zum Haushalt ein Gehbehinderter gehört, dann bezahlen wir auch den Treppenlift, auch wenn es vorher keinen gab. Allerdings ist es zumutbar, dass jemand kleiner baut, wenn das Haus besonders groß war und den aktuellen Lebensverhältnissen nicht mehr entspricht.
Was ist, wenn jemand sein Haus direkt an Ahr oder Erft wieder aufbauen möchte - mit dem Risiko, dass das nächste Hochwasser wieder alles zerstört?
Da orientieren wir uns ganz klar daran, was Baubehörden genehmigen und was der Staat an Bauregularien vorgibt.
Was tun die Hilfsorganisationen bei der Auszahlung von Spenden gegen möglichen Missbrauch?
Länder, Gemeinden und Hilfsorganisationen tragen ihre Antrags- und Auszahlungsdaten in die zentrale Datenbank Phönix ein, die sich schon bei den Hochwassern 2002 und 2013 bewährt hat. Spätestens dort fällt auf, wenn jemand mehrere Anträge zur gleichen Sache stellt. Die zur Verfügung stehenden Gelder sind dafür gedacht, dass Flutopfer Soforthilfe bekommen und später Wiederaufbau- und Einrichtungshilfe bei der Reparatur und neuen Möblierung ihrer Häuser beantragen können. Dass jemand mehrere Anträge zum gleichen Sachverhalt bei verschiedenen Organisationen stellt, wird dadurch vermieden.
Wie viele Anträge auf Hilfe wurden bei den Maltesern bis jetzt gestellt?
Mehrere tausend, und die wollen erst einmal bearbeitet werden. Für eine detailliertere Zwischenbilanz ist es allerdings Stand Ende August noch zu früh. Erst jetzt können viele Menschen, die bisher im Schlamm standen und Dreck und Feuchtigkeit aus ihren Häusern und Wohnungen rauskriegen mussten, über Anträge nachdenken. Auch die Gemeindeverwaltungen kommen jetzt in die Routine der Verwaltungsarbeit, wo betroffene Personen registriert, Schäden erfasst und Listen erstellt werden.
Wo genau leisten Sie Hilfe?
Im Flutgebiet sind die Malteser in über 20 Orten sowohl in Rheinland Pfalz als auch in Nordrhein-Westfalen im Einsatz.
Wie hoch sind die Spendensummen, die Sie dort einsetzen können?
Zum jetzigen Zeitpunkt gehen wir im Rahmen der Fluthilfe von einem Spendeneingang von 30 bis 35 Millionen Euro aus inklusive aller Programme wie Aktion Deutschland Hilft, die wir Malteser für Soforthilfe und Wiederaufbaumaßnahmen, einschließlich notwendiger Übergangsunterbringung, einsetzen können.
Wie lange dauert es, bis ein so großes Katastrophenereignis aus Sicht der Hilfsorganisation finanziell abgewickelt ist?
Die Wiederaufbauphase kann einige Zeit in Anspruch nehmen. In manchen Fällen brauchen die Entscheidungsprozesse Zeit, ob zum Beispiel Gebäude erhalten werden können oder neugebaut werden müssen, ob Baugenehmigungen erteilt werden oder ob alles mit den Versicherungen geklärt ist. In Einzelfällen kann es sich daher leider auch hinziehen. Zu schnell darf es auch nicht gehen. Bei der Flut 2013 wurden manche Häuser in Selbsthilfeaktionen schnell renoviert, aber dann stellte der Sachverständige später fest, dass die Schäden letztendlich doch den Abriss des Gebäudes notwendig machten.
Im Ahrtal sind auch viele Winzerbetriebe betroffen, und vom Weinbau lebt in der Region der Tourismus. Wird auch da mit Spendengeldern geholfen?
Spendengelder dürfen nur gemeinnützig verwendet werden, das heißt, wir dürfen keine Gewerbebetriebe oder Unternehmen unterstützen, sondern helfen den Privathaushalten und sozialen Einrichtungen. Die Erlasse der Finanzministerien zur Hochwasserhilfe stellen das auch noch einmal ganz klar. Unternehmen und Betriebe werden durch die Bundes- und Landeshilfen unterstützt.
Bekommen staatliche Schulen oder kommunale Kindergärten Zuwendungen aus dem Spendentopf?
Nein, staatliche oder kommunale Einrichtungen nicht, aber soziale Einrichtungen wie beispielsweise Kindertagesstätten in privater oder freigemeinnütziger Trägerschaft. Wir wollen aus Spenden keine staatlichen Zahlungsverpflichtungen substituieren.
Dieses Interview wurde am 4. September 2021 auf www.wiwo.de veröffentlicht. Wir danken der WirtschaftsWoche, die uns den Text zur Verfügung gestellt hat, für die Unterstützung.
Der Verfasser des Interviews, Harald Schumacher, arbeitet als Reporter im Unternehmens-Ressort der WirtschaftsWoche. Sein Interviewpartner Ingo Radtke ist der ehemalige Leiter von Malteser International, einer Bündnisorganisation von Aktion Deutschland Hilft, sowie Mitgründer des Bündnisses.
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