von Aktion Deutschland Hilft
Die Hochwasserkatastrophe hat Spuren hinterlassen. Während die sichtbaren nach und nach beseitigt werden, machen sich die unsichtbaren häufig erst später bemerkbar.
Beim Hilfetelefon awo lifebalance finden betroffene Menschen psychologische Beratung. Wie sieht diese Unterstützung am Telefon aus? Und wieso sollten auch seelische Beschwerden ernst genommen werden? Darüber spricht die Psychologin Dr. Christiane Schönknecht im Interview.
Aktion Deutschland Hilft: Die AWO-Familie hatte das Hilfetelefon schon wenige Wochen nach der Flutkatastrophe eingerichtet. Warum war es so wichtig, schnell ein Angebot zu schaffen?
Dr. Christiane Schönknecht: Geschehnisse, wie sie sich in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli ereignet haben, können für Menschen traumatisierend sein. Das muss nicht sein, kann aber passieren – unabhängig davon, ob einem selbst schlimme Dinge widerfahren sind, oder man Augenzeuge war. Solche Erfahrungen haben das Potential, Menschen dauerhaft zu beeinträchtigen.
Mit der Hotline haben wir – zusätzlich zur Psychosozialen Notfallversorgung im Katastrophengebiet (PSNV) – eine Art Erste Hilfe geschaffen. Wir wollen, dass die Menschen möglichst schnell Unterstützung finden. Man weiß zum Beispiel, dass Menschen leichter eine Depression entwickeln können, wenn sie über einen längeren Zeitraum Hilfslosigkeit empfinden.
awo lifebalance bietet Menschen, die von der Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen betroffen sind, sowie Helfer:innen eine kurzfristige psychologische Beratung am Telefon an. Geschulte Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen und Sozialpädagog:innen helfen, Verluste, Ängste und andere Auswirkungen dieser traumatischen Ereignisse zu bearbeiten.
- Die Hotline sowie die Beratung sind kostenlos.
- Wenn gewünscht, bleiben die Anrufer:innen anonym.
- Alle Angaben und Gesprächsinhalte werden streng vertraulich behandelt.
So nehmen Sie das Angebot in Anspruch:
- Hotline: 0800 296 0000 (kostenlos)
- Erreichbarkeit: montags bis freitags von 8 bis 20 Uhr
- Kontakt: Sie können auch eine Nachricht schreiben und um einen Rückruf bitten. Ihr Anliegen wird umgehend weitergeleitet; Sie werden schnellstmöglich zurückgerufen.
Das Hilfetelefon ist eine Aktion von AWO International e.V. und der AWO in Deutschland. Das Angebot (inklusive Honarare für Berater:innen, Telefonanschlüsse etc.) wird komplett mit Spendengeldern von Aktion Deutschland Hilft finanziert.
Hier finden Sie weitere allgemeine Informationen & Anlaufstellen für Betroffene
Wie wurde das Angebot angenommen?
Schon am ersten Tag haben sich die ersten Menschen bei uns gemeldet und in den folgenden Tagen und Wochen wurden es immer mehr. Das war für uns das Zeichen, dass sich das Angebot herumspricht. Mittlerweile konnten wir mehr als 300 Menschen am Telefon weiterhelfen. Darunter sind Frauen und Männer aller Altersgruppen.
Mit welchen Themen oder Problemen wenden sich die Menschen an die Hotline?
Es melden sich Menschen, die schwere Verluste erlitten haben. Sie haben Angehörige verloren oder ihr ganzes Hab und Gut; andere fürchten um ihre wirtschaftliche Existenz. Uns erreichen auch Menschen, die zwar nicht direkt betroffen sind, aber verarbeiten müssen, was Angehörigen zugestoßen ist.
Vor allem am Anfang ging es nicht nur um die psychischen Auswirkungen der Katastrophe. Menschen, deren Haus zerstört wurde, stehen zunächst vor der Frage, wie sie den Wiederaufbau bewältigen können. Diese haben wir dann an die entsprechenden Stellen vermittelt.
Dann gibt es Menschen mit Mehrfachbelastung: Während Zuhause die Wände trockneten, mussten sie weiter ihrer Arbeit nachgehen. Die Erfahrung zeigt: Erst wenn mehr Ruhe eingekehrt ist, kommen Sorgen und Ängste hoch. Die Seele kann im Ausnahmezustand sehr widerstandsfähig sein; der Mensch funktioniert. Oft kehren Bilder und Erinnerungen mit Verzögerung zurück.
Mit etwas zeitlichem Abstand melden sich auch Menschen, die zum Beispiel bei Starkregen Angst vor einer erneuten Flut haben. Es gibt Anrufer, die vor der Katastrophe eine psychische Belastung hatten oder im Laufe ihres Lebens schon einmal alles verloren haben – etwa ältere Menschen. Und es gibt Menschen, die weiterhin nicht in ihre Häuser zurückkehren können und die diese andauernde Evakuierung sehr belastet.
Wie kann man Menschen nach so einer Katastrophe am Telefon helfen?
Es klingt erstmal banal: mit Zuhören. Es hilft, jemanden zu haben, der sich am anderen Ende der Leitung Zeit nimmt und das Gehörte dank professioneller Erfahrung aushalten kann.
Wenn im privaten Umfeld von Sorgen berichtet wird, ist der Reflex groß, tröstende Worte und eine Art Rezept oder Pflaster zu finden. Das ist aber nicht immer hilfreich. Es kann besser sein, erstmal zuzuhören und dem Menschen Raum zu geben, Dinge auszusprechen – auch Wut und Verbitterung.
Es geht also einmal darum, sich das Belastende von der Seele zu reden. Und es geht darum, gemeinsam die nächsten Schritte zu finden, wieder ein Stück Fuß zu fassen. Was tut dem Menschen jetzt gut, was entlastet? Wenn man nicht weiß, wie man die nächsten Tage oder Wochen bewältigen kann, wird zusammen überlegt: Wie kann man sich eine Tagesstruktur schaffen? Wer kann im realen Leben unterstützen?
Dabei blicken wir auf die individuellen Stärken und Ressourcen, damit sowohl Körper als auch Seele wieder mehr Kraft bekommen. Wir widmen uns etwa der Frage, was in der Vergangenheit genützt hat, um starke Belastungen zu verarbeiten oder schauen auf erfolgreich bewältigte Krisen im Lebenslauf der Ratsuchenden. Zusätzlich kann es darum gehen, Menschen zu ermutigen, sich vor Ort professionelle Hilfe zu suchen.
Wird es das Hilfetelefon denn weiterhin geben?
Das Hilfetelefon wurde erstmal für eine Laufzeit von drei Monaten ins Leben gerufen. Wir wussten am Anfang nicht, wie groß die Nachfrage sein würde. Wir gehen weiterhin davon aus, dass psychische Belastungen mit zeitlicher Verzögerung auftreten werden. Daher wird die Hotline für drei weitere Monate, also bis Februar 2022, erreichbar sein.
Häufig ist die Hürde groß, um professionelle Hilfe zu bitten. Was raten Sie Menschen, die für sich selbst oder Angehörige Unterstützung suchen?
Sich Hilfe zu holen ist eine Stärke und eine Kompetenz, die nicht jeder hat. Wenn der Körper schmerzt, ist es wichtig, frühzeitig zum Arzt zu gehen. Das gleiche gilt bei psychischem Schmerz. Wenn die Seele wehtut, braucht sie Unterstützung und jeder, der sich diese Hilfe organisiert, ist stark und mutig.
Häufig ist mit der Scham, um professionelle Hilfe zu bitten, die Angst vor Verurteilung verbunden. Das folgende Gedankenexperiment kann helfen, Mut zu fassen oder jemanden zu ermuntern. Fragen Sie: "Wie würdest du von jemandem denken, der bei einem Hochwasser alles verloren hat und sich das alles von der Seele redet?" Die allermeisten Menschen werden erkennen, dass sie Verständnis hätten. Das kann die eigene Entscheidung erleichtern.
Dr. Christiane Schönknecht ist Diplompsychologin, systemische Coachin und die fachliche Leitung der psychologischen Beratung bei der awo lifebalance.
Möglich ist all diese Hilfe dank Ihnen – den Spenderinnen und Spendern unseres Bündnisses. Danke an alle, die geholfen haben!
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