von Aktion Deutschland Hilft
Die Solidarität nach dem Hochwasser in Deutschland ist überwältigend. Tausende Helfer:innen waren und sind im Katastrophengebiet aktiv; darunter viele aus dem Bündnis Aktion Deutschland Hilft.
Das ist eine besondere Situation. Die meisten Hilfseinsätze in der 20-jährigen Geschichte hat das Bündnis im Ausland geleistet. Nur in Ausnahmefällen sind die Hilfsorganisationen gemeinsam in Deutschland aktiv.
Welche Unterschiede es zwischen Inlands- und Auslandseinsätzen gibt, warum sich bei der Katastrophenhilfe im Inland etwas ändern muss und was wir von anderen Ländern lernen können, kommentiert Manuela Roßbach, geschäftsführende Vorständin von Aktion Deutschland Hilft.
Wir fordern:
- eine zentrale Koordinierungsstelle, die sich nach Katastrophen in Deutschland speziell um die humanitäre Hilfe kümmert
- den zeitgemäßen Aufbau von Strukturen durch Bund und Länder, damit Katastrophenhilfe schneller und besser funktioniert
- den Ausbau der staatlichen Katastrophenvorsorge durch Warnsysteme, die für jung und alt, für Menschen mit und ohne Behinderung verständlich sind
- eine Kehrtwende im Umgang mit der Klimakrise und ihren schon heute katastrophalen Folgen. Für Bund und Länder ist es jetzt an der Zeit, zu handeln: um Menschen zu schützen und noch mehr Leid zu verhindern
Kommentar zur humanitären Hilfe in Deutschland: Gerechtigkeit braucht Koordination
Humanitäre Hilfe zu leisten ist immer eine Herausforderung. Wer kann helfen? Wo beschaffen wir Hilfsgüter so effizient wie möglich? Wie bekommen wir notwendige Hilfe schnell in abgelegene Regionen?
Diese und andere Fragen begleiten Helferinnen und Helfer aus unserem Bündnis weltweit. Egal ob in der DR Kongo, in Bangladesch, im Jemen oder eben in Deutschland.
Hier haben wir die Klimakrise bisher kaum gespürt. Jetzt erfahren wir, wie es sein kann, Naturgewalten ausgeliefert zu sein. Damit umzugehen, müssen wir erst lernen. Doch die Erfahrung und notwendige staatliche Strukturen fehlen bisher.
Klimakrise und Katastrophen: Wir müssen aus Fehlern lernen!
Deutschland muss diese Hochwasser-Katastrophe nutzen: um aus Fehlern zu lernen und um auf künftige Naturereignisse besser reagieren zu können.
Der Wiederaufbau wird Jahre dauern – und die seelischen Wunden sitzen tief. Damit sich eine solche Katastrophe nicht wiederholt, müssen wir klare, effiziente und übergeordnete Strukturen zur Vorsorge aufbauen.
Wie Nothilfe funktioniert – und was wir fordern
Ein Beispiel für übergeordnete Hilfsstrukturen im Ausland sind die sogenannten UN Cluster. Über diese Plattformen treffen sich im Katastrophenfall alle Akteur:innen der humanitären Hilfe und stimmen sich über die Maßnahmen ab. Das geschieht virtuell oder bei physischen Treffen im betroffenen Land.
Diese Cluster werden von den Vereinten Nationen (UN) aktiviert, wenn ein Land nach einer Katastrophe ein internationales Hilfegesuch stellt. Wohlhabende Nationen machen das seltener – dort gilt eher das Selbstverständnis: Das schaffen wir alleine. Daher gibt es in den starken Wirtschaftsnationen keine UN Cluster. Und häufig auch keine andere zentrale Plattform.
Wir fordern: Bund und Länder müssen in der nächsten Legislaturperiode koordinierende Stellen für humanitäre Hilfe schaffen und die bestehenden Strukturen des staatlichen Katastrophenschutzes überarbeiten. Es ist wichtig, frühzeitig Maßnahmen der Katastrophenvorsorge zu bedenken, damit sich bei neuen Katastrophen der Handlungszeitraum verkürzt. Technische Aspekte müssen hier ebenso bedacht werden wie soziale und psychologische. Die Zivilgesellschaft kann und sollte dafür nicht allein die Verantwortung tragen – trotz des großen Engagements aller.
Der Ausruf des Katastrophenfalls ist gesetzliche Aufgabe der Landkreise beziehungsweise kreisfreien Städte. Sie geben Informationen bezüglich der Organisation der Hilfe an die Kreisverwaltungen weiter. Dort wird ein Krisenstab eingesetzt, der die Hilfsmaßnahmen für die Dauer des ausgerufenen Katastrophenfalls leitet.
Der Krisenstab trifft die Entscheidungen über Einsatzpläne und setzt Rechte und Pflichten durch. Die Feuerwehr, das Technische Hilfswerk, die Bundeswehr, die Polizei und Organisationen wie der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), die Johanniter oder der Malteser Hilfsdienst unterstützen die Länder und Kreise bei dieser Aufgabe.
Ist der Katastrophenfall vorüber, greifen wieder die in den Ländern geltenden kommunalen Hierarchien und Zuständigkeiten auf Landes-, Kreis- und kommunaler Ebene.
In den Hochwassergebieten kennen sich die Bürgermeister:innen der betroffenen Städte und Dörfer am besten aus. Sie wissen, wo die Katastrophe die größten Schäden hinterlassen hat; kennen die Menschen persönlich, die zu Schaden gekommen sind. Auf ihnen lastet viel Verantwortung – und sie hoffen, ihre Gemeinden gut aus der Katastrophe herausführen zu können. Doch auch für sie war und ist dies eine vollkommen neue Situation. Weder sie noch ihre Mitarbeitenden waren für das Management einer solchen Notlage ausgebildet.
Wir fordern: Für den Ausbau der Nothilfe-Koordination müssen Bund und Länder das Geld für die Ausbildung von Personal, entsprechende Katastrophenschutz-Schulungen und Trainings bereitstellen. Und sie müssen dringend in das Management von Naturkatastrophen investieren – damit es professionelles Personal gibt, das den Hilfsbedarf erfassen und Hilfsmaßnahmen koordinieren kann. Auch hier gilt: Die Zivilgesellschaft kann und sollte dafür nicht allein die Verantwortung tragen – trotz des großen Engagements aller.
Hilfsorganisationen aus dem Bündnis Aktion Deutschland Hilft leisten den betroffenen Menschen seit Tag 1 der Katastrophe gemeinsam Nothilfe. Einige von ihnen sind Teil des Rettungsdienstes: Sie retten Menschenleben bei akuter medizinischer Gefahr. Dazu gehören der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), die Johanniter und der Malteser Hilfsdienst.
Durch die direkte Vernetzung mit Helfer:innen, Betroffenen und Krisenstäben hatten wir als Bündnis von Anfang an Informationen über die Lage vor Ort. Das ermöglicht die koordinierte Abstimmung zwischen den Hilfsorganisationen bei Aktion Deutschland Hilft – und das Sammeln und Teilen von Informationen.
Wir fordern auch an dieser Stelle, dass Bund und Länder koordinierende Stellen für humanitäre Hilfe schaffen und die bestehenden Strukturen des staatlichen Katastrophenschutzes überarbeiten. Die Zivilgesellschaft kann und sollte dafür nicht allein die Verantwortung tragen – trotz des großen Engagements aller.
...oder: Warum Kleinbauern in Mosambik gefördert werden dürfen – und Bäcker im Ahrtal nicht
Das jeweilige Rechtssystem definiert in allen Ländern, wie Spenden eingesetzt werden dürfen: in Deutschland beispielsweise nur für mildtätige und gemeinnützige Zwecke.
Das heißt: In Mosambik ist es möglich, einer Kleinbäuerin dabei zu helfen, ihre durch einen Wirbelsturm zerstörte Lebensgrundlage wiederaufzubauen. Eine kleine Bäckerei in Deutschland hingegen, die durch das Hochwasser große Schäden erlitten hat, gilt nach deutschem Recht als Einzelunternehmen. Und finanzielle Hilfeleistungen in Form von Spenden nach Naturkatastrophen dürfen aus steuerrechtlichen Gründen nicht an Unternehmen gehen.
Zudem haben sich Hilfsorganisationen in Deutschland dem Nachrangigkeitsprinzip verpflichtet. An erster Stelle sind Versicherungsleistungen oder die Bezuschussung von öffentlichen Mitteln für bedürftige Menschen auszuschöpfen. Das hat zur Folge, dass Spendengelder erst später verausgabt und zum Beispiel Einzelfallhilfen nicht sofort ausgezahlt werden.
Eine notwendige Voraussetzung für die Auszahlung von Einzelfallhilfen ist, dass Betroffene Anträge auf staatliche Wiederaufbauhilfe gestellt haben. Erst wenn Betroffene von Bund, Ländern, Städten, Gemeinden und Versicherungen keine finanzielle Hilfe erhalten haben, werden Hilfsorganisationen tätig. Missachten Hilfsorganisationen diese Erlasse und Regeln, können ihnen rechtliche Konsequenzen drohen.
Wir fordern: Bürokratischen Hürden müssen abgebaut werden, wenn es um Hilfe für Menschen in Not geht.
Katastrophenhilfe muss nicht nur zentral gesteuert, sondern auch dokumentiert werden. Nur so kann Gerechtigkeit gesichert, Transparenz gewährleistet und Betrug verhindert werden. Und nur so können wir zum Beispiel dafür sorgen, dass nicht einige betroffene Menschen mehrfach Hilfe erhalten – und andere gar keine.
Deshalb tragen zahlreiche Hilfsorganisationen freiwillig in eine Datenbank ein, wie sie helfen und wem sie Soforthilfen auszahlen.
Diese Datenbank haben Hilfsorganisationen nach dem Hochwasser 2013 in Sachsen entwickelt und genutzt. Für die Aktualisierung und die flächendeckende Verbreitung dieser Datenbank war und ist jedoch niemand verantwortlich.
Es ist dringend notwendig, das System zu modernisieren und alle helfenden Organisationen zu verpflichten, es zu nutzen.
Wir fordern: Auch hier müssen Bund und Länder mehr Verantwortung übernehmen. Es geht um Gerechtigkeit – und dafür Sorge zu tragen, sollte eine der wichtigsten Aufgaben der Politik sein.
Ein anderes Beispiel für technischen Rückstand in der deutschen Katastrophenhilfe sind fehlende Warnsysteme. Wie wichtig sie sind, haben die Bundesregierung und die Länder nun erkannt: 2022 soll Cell Broadcast eingeführt werden. Diese Technik sendet Warnmeldungen an alle Handys, die sich in einem bestimmten Gebiet befinden, und warnt beispielsweise vor Hochwasser.
Das ist richtig und wichtig – und kommt zu spät. Zwar gibt es seit 2015 die Warn-App NINA vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Doch die hilft nur den Menschen, die sie auch auf dem Handy installiert haben. Cell Broadcast hingegen gibt es seit den 1990er Jahren und wird in vielen Ländern wie Japan, Peru oder Rumänien längst genutzt.
Wir fordern: Der Staat muss dringend flächendeckende Warnsysteme einrichten. Erst recht, weil Klimakatastrophen zunehmen. Überall. Auch Deutschland braucht endlich dieses einfache und effiziente Mittel, um Menschen vor Wirbelstürmen, Hochwasser, Erdbeben und anderen Naturkatastrophen zu schützen.
Wir können noch mehr von anderen Ländern lernen. Etwa von Haiti, einem der ärmsten Länder der Welt. Auch dort läuft in der Nothilfe vieles schneller als bei uns.
Nach einem schweren Erdbeben im August 2021 dort hat es zwei Tage gedauert, bis unser Bündnis auf Daten zum entstandenen Schaden und Hilfsbedarf zugreifen konnte. Nach der Hochwasserkatastrophe in Deutschland dauerte das Wochen.
Der Grund: In Haiti und vielen anderen Ländern gibt es zentrale Stellen, an die lokale Organisationen ihre Informationen übermitteln. Alle lokalen Organisationen wissen, wem und wie sie Daten zu übermitteln haben – anders als beispielsweise im Ahrtal, wo es keine zentrale Sammelstelle für solche Informationen gab.
Dabei geht es um Schadensmeldungen ebenso wie um die Bedürfnisse der Menschen. Wie viele Familien brauchen welche Hilfsgüter? Welche Sorgen gibt es, welche Ängste haben ältere Menschen oder Menschen mit Behinderung? Auch diese Informationen wurden nach der Hochwasserkatastrophe nirgends zentral gesammelt und weitergegeben.
Wir fordern: Menschen vor Leid zu schützen, ist Aufgabe der Politik. Dafür braucht es Ansprechpartner:innen und transparente Strukturen. Lessons learned unter Beteiligung von verschiedenen Hilfeakteuren müssen anberaumt werden. Der Staat muss mehr Verantwortung für seine Bevölkerung übernehmen – jetzt!
Leben mit der Klimakrise: Die Zeit zu handeln ist jetzt
Das Hochwasser war nicht die erste große Katastrophe in Deutschland – und mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die letzte. Die Klimakrise ist da und wir werden mit ihr leben müssen.
Wer die Gefahren kleinredet, zahlt am Ende den höheren Preis – menschlich wie finanziell. Gerechtigkeit braucht Koordination. Und um künftig Leben zu retten und weitere fatale Schäden zu vermeiden, müssen wir handeln. Jetzt!
Um voneinander zu lernen, braucht es Austausch zwischen den Akteur:innen, die Erfahrung mit humanitärer Hilfe nach Katastrophen gemacht haben. Nur so können wir Herausforderungen besser meistern.
Nicht umsonst gibt es internationale Standards in der humanitären Hilfe, die praxisnah sind und die wesentlichen Bereiche der Hilfe abdecken. Das Teilen von Wissen kann zu großen Verbesserungen führen. Wir können von Auslandserfahrungen ebenso lernen wie von den Erfahrungen nach den Hochwasserkatastrophen in Deutschland.
Hilfe geht weiter: Wir müssen mehr Zuhören und Bedürfnisse erkennen
In den Hochwasserregionen wird es in den kommenden Monaten weiter um technische Hilfe, Aufräumarbeiten und den Wiederaufbau gehen. Doch auch die menschliche Seite muss mehr in den Vordergrund rücken.
Wir müssen noch mehr Zuhören, um die Menschen zu verstehen: der alten Frau, die ihr Haus verloren hat. Dem Kind, dessen Schule von den Fluten weggerissen wurde. Der Familie, die einen geliebten Angehörigen verloren hat. Den Helferinnen und Helfern, die rund um die Uhr im Einsatz sind und selbst schreckliche Bilder verarbeiten müssen.
Katastrophen machen etwas mit den Menschen. Die psychosozialen Folgen der Katastrophe werden noch lange zu spüren sein. Oft machen sie sich erst viel später bemerkbar.
Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt dafür sorgen, dass Nothilfe und Katastrophenvorsorge in Deutschland besser koordiniert und etabliert werden.
Wir dürfen die betroffenen Familien und ihre Schicksale nicht vergessen. Stattdessen sollten wir als Gesellschaft daraus lernen und unsere Zukunft gemeinsam sicher und ökologisch verträglich gestalten.
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