von Aktion Deutschland Hilft
Im Ahrtal wurde an diesem Juni-Wochenende gefeiert. Davon zeugen das "Weinblütenfest", das in großen Buchstaben auf einem Banner steht, und die Bierbänke und -tische, die am Montagmorgen in Mayschoss zusammengeklappt werden.
Ein paar Meter weiter die Straße entlang: zugenagelte Fenster, Leerstand, Baustellen. Im zweiten Stock eines Hauses sieht man durch ein Loch, das einmal ein Fenster war, einen altmodischen, mit Stoff bezogenen Lampenschirm von der Decke hängen. Er ist dort vor drei Jahren zurückgelassen worden.
Zu jedem Haus im Ahrtal gibt es eine Geschichte
Drei Jahre sind seit der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 vergangen. Heftiger Starkregen hatte in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen Flüsse über die Ufer laufen lassen, ganze Dörfer unter Wasser gesetzt, Häuser fortgerissen. Mehr als 180 Menschen starben, 134 davon im Ahrtal.
Zu jedem Haus im Ahrtal gibt es seit dieser Nacht eine Geschichte zu erzählen. Mike Harzen hat viele davon gehört. Er arbeitet im Werkzeugverleih von Habitat for Humanity, einer Bündnisorganisation von Aktion Deutschland Hilft, in Dernau.
Dort können Betroffene seit August 2021 Geräte ausleihen, die sie für die Aufräumarbeiten und den Wiederaufbau ihres Zuhauses benötigten: Bautrockner, um die Feuchtigkeit aus den Wänden zu bekommen. Putzfräsen, um den alten Putz zu entfernen. Rüttelplatten, um den Boden zu ebnen. Heizgeräte für den Winter, Nasstrockensauger, Schlaghammer, Kernbohrer, Deltaschleifer, Baustellentüren.
Wie die Geräte und das Werkzeug funktionieren, hat Mike Harzen sich nach und nach beigebracht. "Wie alle hier", sagt er. Harzen hat zunächst selbst als Betroffener Geräte im Verleih entliehen. Als er erfuhr, dass Mitarbeiter:innen gesucht werden, bewarb er sich. "Drei Tage pro Woche arbeite ich im Verleih, den Rest der Zeit bin ich in den Weinbergen." Grün ragen diese links und rechts der Ahr hervor. Der Winzer liefert seine Ernte an eine Winzergenossenschaft.
"Das hat alles länger gedauert, als wir gedacht haben"
Sein Elternhaus stand nur wenige Meter vom Werkzeugverleih entfernt, es musste nach der Flut abgerissen werden. Gerade wird es wiederaufgebaut, spätestens im Frühjahr 2025 soll es aus der Mietwohnung zurück ins eigene Heim gehen. "Das hat alles länger gedauert, als wir gedacht haben."
Nach der Flutkatastrophe kam ein kleines Team von Habitat for Humanity, zunächst ausgerüstet mit ein paar Schaufeln, ins Ahrtal. Das Ziel der international tätigen Bündnisorganisation, die ihren deutschen Sitz in Köln hat, war von Anfang an, bei Renovierungen und Wiederaufbau zu unterstützen. Schon nach wenigen Wochen startete der Werkzeugverleih, nach und nach wurden das Sortiment erweitert, Mitarbeiter:innen eingestellt und ein elektronisches Verleihsystem entwickelt. Neben dem Standort in Dernau gab es bis Ende 2023 einen mobilen Verleih, der in Altenburg, Kreuzberg und Altenahr Halt machte.
"Wir haben eine Vielzahl von Geräten. Unser Sortiment haben wir immer den entsprechenden Bedarfen angepasst. Daraus entstand letztendlich ein Angebot von über 80 Gerätetypen", erklärt Annette Mannschott, die den Standort leitet.
Unterstützung für 547 Haushalte im Ahrtal und darüber hinaus
Menschen aus 547 Haushalten – aus dem Ahrtal und darüber hinaus – sind nach fast drei Jahren im System registriert. Finanziert wurde der Werkzeugverleih zu 90 Prozent mit Spenden, die nach der Flut bei Aktion Deutschland Hilft eingegangen waren. "Teilweise haben wir außerdem Container, Geräte und Werkzeug zur Verfügung gestellt bekommen", sagt Mannschott.
Im September 2024 wird der Werkzeugverleih im Ortskern von Dernau seine Türen schließen. Mit ihm verschwinden werden bis Jahresende die blauen Container, in denen das Werkzeug gelagert wird und das große Zeltdach mit der Ausleih- und Rückgabe-Theke. Ein "gesunder Zeitpunkt", findet das Team von Annette Mannschott.
Lange drehte sich alles um Bautrockner
"Lange drehte sich alles um Bautrockner. Nach und nach kamen immer weniger Menschen zu uns." Daher prüfte Habitat for Humanity im vergangenen Jahr durch eine Befragung von 70 Haushalten, wie groß der Bedarf im Laufe von 2024 sein würde. Das Ergebnis: Die Menschen, die zu diesem Zeitpunkt Unterstützung erhielten, würden ihre Arbeiten bis Sommer überwiegend abgeschlossen haben.
In den Dörfern entlang des kleinen Flusses, der vor drei Jahren auf über sieben Meter angestiegen war, herrscht reger Betrieb. Es wird gebaut, abgerissen, aufgeräumt. Baustellenfahrzeuge warten an den Ampeln, die den Verkehr auf den meist nur einseitig befahrbaren Straßen regeln. Manchmal steht ein offensichtlich neues Haus neben einer Baustelle, auf der gearbeitet wird, oder einem leerstehenden Gebäude. Man fragt sich, warum das so ist.
Langes Warten auf Gutachter, Handwerker, Versicherungen oder Gerichtsurteile
"Die Gründe sind ganz unterschiedlich", sagt Mike Harzen. Bei manchen Menschen waren die psychische Belastung nach der Flutkatastrophe oder die Entscheidung, ob man überhaupt wiederaufbauen will, zu groß. Bei anderen standen finanzielle Gründe im Weg. Nicht jeder kann den Eigenanteil für den Wiederaufbau aufbringen oder erhält einen Kredit dafür. Wieder andere warteten lange auf Gutachter:innen, Handwerker:innen, Versicherungen oder Gerichtsurteile.
Dass es den Werkzeugverleih von Habitat for Humanity im Ahrtal bald nicht mehr geben wird, hat sich herumgesprochen. Bernd Schlesiger kommt an diesem Morgen vorbei, um zu fragen, wie lang er seine Baustellentür noch behalten könne. Auch sein Haus steht nur wenige Meter entfernt. Während der Flut stand das Wasser zehn Zentimeter unter der Decke, mittlerweile ist das Ehepaar Schlesiger zurückgekehrt. "Außer der Garage ist alles fertig", sagt er.
Ein Treffpunkt für die Menschen im Tal – auch das ist der Werkzeugverleih
Man kennt sich in Dernau, dem 1.700-Seelen-Dorf. Bernd Schlesiger beispielsweise war bis zu seinem Ruhestand vor zehn Jahren Lehrer an einer Schule in der Nachbargemeinde Altenahr. Nach der Flut traf er seinen ehemaligen Schüler Mike am Werkzeugverleih wieder, immer wieder sprechen die beiden dort auch über die alten Zeiten.
Denn auch das ist der Werkzeugverleih: Ein Treffpunkt, wie es bis zur Flut zum Beispiel der Lebensmittelladen im Dorf war. "Hierher kam man nicht nur, um sich Werkzeug zu leihen und einander praktische Tipps zu geben, sondern auch, um zu quatschen", sagt Harzen. "Für die Seele."
Während die Hilfe im Werkzeugverleih zu Ende geht, wird psychosoziale Unterstützung im Ahrtal noch lange nötig sein. Da ist sich das Team einig.
Vielfältige Hilfs- und Unterstützungsangebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene
Viele Angebote der Bündnisorganisationen von Aktion Deutschland Hilft haben sich die psychosoziale Unterstützung für Kinder und Erwachsene zum Ziel gemacht: Es gab und gibt Helfer:innen, die von Tür zu Tür gehen, um die Menschen nach ihren Bedürfnissen zu fragen. Außerdem Gesprächsangebote für Einzelpersonen und Gruppen, Freizeitaktivitäten wie Pferdereiten, Zirkus und Schwimmkurse für Kinder und Jugendliche.
Fährt man durch die Orte entlang der Ahr, entdeckt man an Ortseingängen, Zäunen oder Containern immer wieder Logos von Bündnisorganisationen: action medeor, die unter anderem Container für eine Apotheke und psychosoziale Unterstützung ermöglicht hat. Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), Johanniter-Unfall-Hilfe und die Malteser, die beispielsweise Beratungsbüros für Betroffene eingerichtet und dort mit rechtlichem Beistand und finanzieller Hilfe unterstützt haben.
Help – Hilfe zur Selbsthilfe, die Feuerwehren, Vereine oder auch Schulen finanzielle Mittel, etwa für neue Lehrmaterialien, zur Verfügung gestellt haben. 15 Bündnisorganisationen waren insgesamt am Hilfseinsatz für die Menschen in Rheinland-Pfalz und NRW beteiligt. Bis heute wurden in allen betroffenen Regionen 110 Hilfsprojekte umgesetzt.
Was, wenn das nächste Mal so viel Regen kommt?
Trotz allem, was im Hochwassergebiet schon geleistet wurde, gibt es weiterhin Herausforderungen. "Was mir Bauchschmerzen macht, ist der Hochwasserschutz", sagt Harzen über die Lage in seiner Heimat. "Wenn das nächste Mal so viel Regen kommt, was jederzeit passieren kann, was dann?" Die Häuser, die neu aufgebaut wurden, mussten sich an strenge Vorschriften halten. Im Erdgeschoss beispielsweise darf sich kein Wohnraum befinden. Für Häuser, die renoviert wurden, gilt diese Regel nicht.
Der Lebensmittelladen, der frühere Treffpunkt im Ort, wird nicht wiedereröffnen. Und auch die Schule in Altenahr, die vollständig zerstört wurde, besteht vorerst weiterhin aus Containergebäuden in einer nahegelegenen Gemeinde. Dennoch: Nach und nach kehrt in Dernau und den anderen Orten entlang der Ahr das Dorfleben zurück, die Vereinsfeste, der Sportverein. "Die Menschen wünschen sich Normalität", sagt Harzen.
Bis zum Jahresende wird der Werkzeugverleih von Habitat for Humanity zurückgebaut. Und mit ihm wird das große Schild am Eingang verschwinden, auf dem in großer Schrift "Katastrophenhilfe" steht. Annette Mannschott sagt: "Das ist vielleicht auch ganz gut so, damit die Menschen dieses Wort nicht mehr immer sehen müssen."
+++ Spendenaufruf +++
Aktion Deutschland Hilft, Bündnis der Hilfsorganisationen,
bittet um Spenden für die betroffenen Menschen im Hochwassergebiet.
Stichwort: Hochwasser Deutschland
IBAN DE62 3702 0500 0000 1020 30, BIC: BFSWDE33XXX
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