von Johanna Mitscherlich, CARE
Ich war schon einmal hier. Es ist ein halbes Leben lang her, doch ich erinnere mich noch genau daran, wie ich mit 15 in einem dieser Stühle saß. Ich wartete darauf, Tickets für die Fähre zu kaufen, die meine Freunde und mich in den Urlaub auf die griechischen Inseln bringen sollte. Auch heute warten hunderte Menschen in der Abfahrthalle am Hafen von Piräus. Aber sie warten schon seit Wochen und Monaten. Und zwar nicht, um in den Urlaub zu fahren, sondern um einen sicheren Ort für sich und ihre Kinder zu finden. Etwa 2.500 Menschen, die meisten von ihnen aus Syrien, harren seit der Schließung der Grenze nach Mazedonien im Februar hier aus.
Im Hafen übernachten Flüchtlinge mit dem gesamten Hab und Gut
Der Hafen ist ein belebter Ort. Die großen Fähren bringen Tag für Tag Urlauber auf die Inseln, Lastwagen fahren herum, Touristen besteigen mit Zelten und Rucksäcken bepackt die Schiffe – und das alles zwischen hunderten Flüchtlingen. Der eine schläft aus Abenteuerlust in einem Zelt, der andere, weil er keine andere Wahl hat. In der Halle haben die Menschen alles, was aus ihrem Leben noch übrig geblieben ist, gestapelt und sortiert. Es scheint so, als sei die Ordnung dieser Dinge das einzige, über das sie in ihrem Leben noch die Kontrolle haben. Kleine Koffer, Rucksäcke, Kinderspielzeug, Fotos. Kinder spielen mit Bällen und springen Seil, während Mütter ihre Babys wickeln. Plötzlich greift eine kleine Hand nach meiner und die fünfjährige Salam führt mich zu einer kleinen Matratze, auf der sie mit ihren Eltern und Geschwistern lebt. „Tut mir leid“, entschuldigt sich ihre Mutter. „Salam mag es, neue Menschen zu treffen und ein bisschen Abwechslung zu haben.“
Das Schicksal von Reem
Reem ist 27 Jahre alt. Sie floh mit Salam, ihrem Mann und ihren fünf weiteren Kindern im Alter zwischen eins und 13 Jahren aus Aleppo, wo ihr Mann als Maurer gearbeitet hat. Als ich mich in ihre kleine Ecke setze, gibt Salam mir eine Plastikgabel mit einem geschälten Apfel. „Möchtest du einen Tee?”, fragt sie mich dann fröhlich, als könnte sie gleich aus einer voll ausgestatteten Küche zurückkehren und mir ein Getränk servieren. Doch stattdessen fängt sie an, in den wenigen Habseligkeiten der Familie zu wühlen.
Flucht als Spiel mit den Kindern
Reem erzählt mir, dass sie in den ersten paar Wochen auf der Flucht ein Spiel mit den Kindern gespielt hat. Sie taten so, als wäre das alles nur Teil eines großen Abenteuers. „Kinder können sich gut an neue Situationen anpassen. Doch wie erklärst Du ihnen, dass Dein Haus zerbombt wurde, dass Du alles verloren hast? Ich habe einfach so getan, als wäre das alles total aufregend, um sie bei Laune zu halten.“ Doch ihre Kinder haben schnell gemerkt, dass das alles andere als ein Spiel ist. „Alle meine sechs Kinder sind krank. Hier gibt es viel zu wenige sanitäre Einrichtungen für uns alle und wir haben nur kaltes Wasser. Manche Kinder haben Krätze; ich bete jeden Tag, dass meine sich nicht anstecken. Wir schlafen auf dem Boden und die Umstände sind ausgesprochen schwierig.“
Vor Ort in Piräus
Im Camp in Piräus gibt es keine Privatsphäre, keine Sicherheit und nur wenig Essen, das von Freiwilligen verteilt wird. „Wir haben es geschafft, zusammen zu bleiben und zu überleben. Das ist das Allerwichtigste. Aber ich merke jeden Tag, wie uns diese Situation an die Substanz geht. Ich habe seit Jahren nicht richtig geschlafen, seit einigen Monaten fühle ich mich wie ein Schatten von mir selbst“, sagt Reem, während sie eines ihrer Kinder auf dem Arm schaukelt und Fröhlichkeit vortäuscht. Ihr Mann sieht sie zärtlich an, nimmt ihre Hand und erklärt: „Ich glaube, die Menschen in Europa wissen einfach zu wenig über unsere Situation hier. Wenn sie wüssten, unter welchen Bedingungen wir hier leben, würden sie kommen und uns helfen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis alles wieder gut wird.“ Walid wiederholt seine Worte einige Male, wieder und wieder, wie ein Mantra. Wie etwas, das er sich selbst einreden und glauben will. „Wir haben alles verkauft, was wir jemals besessen haben, um unsere Kinder in Sicherheit zu bringen und sie vor dem Krieg in Aleppo zu retten. Aber wo haben wir sie hingebracht? Wie konnten wir in solch einem Elend landen?“
Nur 876 konnten aus Griechenland in andere Länder reisen
Dabei zuzusehen, wie Reem und ihr Mann versuchen, ihre Kinder glücklich und diese unerträgliche Situation aushaltbarer zu machen, frustriert mich. Die Familie versucht seit Wochen, über das Umsiedlungsprogramm der EU nach Deutschland zu kommen. Pro Tag ist hierfür jeweils für einige Stunden eine Skype-Hotline freigeschalten, die sie anrufen müssen, um einen Termin zu machen.
Bis jetzt ist es ihnen allerdings nicht gelungen, jemanden zu erreichen. Laut der EU sind zwischen 35.000 und 40.000 der Menschen in Griechenland berechtigt, an dem Programm teilzunehmen. Von den 20.000 Menschen, die bis Mitte Mai umgesiedelt werden sollen, konnten bisher jedoch nur 876 aus Griechenland in andere Länder der EU reisen. Menschen wie Reem und ihre Familie, die noch nicht einmal einen Termin ausmachen konnten, leiden unter der Ungewissheit und haben gleichzeitig keine Ressourcen mehr. Für sie ist diese Wartehalle zu einer Wartehölle geworden. „Wir möchten einfach nur endlich irgendwo ankommen; irgendwo, wo wir sicher sind und wir uns keine Sorgen mehr machen müssen. Irgendwo, wo kein Krieg herrscht“, sagt Reem.
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