von Aktion Deutschland Hilft
Seit Anfang Dezember 2024 ist in Syrien alles anders: Der bisherige Machthaber Baschar al-Assad herrscht nicht mehr. Für die Zivilbevölkerung bedeutet das einen Neuanfang und die vorsichtige Hoffnung auf Normalität und Frieden – nach mehr als 13 Jahren Krieg.
Nothilfe Syrien: Die Hoffnung auf dauerhaften Frieden
Janine Lietmeyer ist Vorständin bei unserer Bündnisorganisation World Vision. Im Interview spricht sie darüber, was die neue Situation für die Menschen bedeutet, warum die humanitäre Lage möglicherweise sogar erst einmal schwieriger wird und wie humanitäre Hilfe einen Beitrag zu einem dauerhaften Frieden leisten kann.
Aktion Deutschland Hilft: Warum hat sich in Syrien ausgerechnet jetzt so schnell die Lage verändert - nachdem schon mehr als 13 Jahre Krieg geherrscht hat?
Janine Lietmeyer: Der Konflikt in Syrien war nicht nur eine interne Auseinandersetzung zwischen dem Machthaber und oppositionellen Gruppen, sondern hat sich im Laufe der Jahre mehr und mehr internationalisiert. Nur durch das internationale Eingreifen verschiedener Länder konnte sich die nun gestürzte Regierung so lang an der Macht halten. Nach der Rückeroberung von Aleppo und vieler Oppositionsgebiete im Süden des Landes im Jahr 2016 wurden viele Oppositionsanhänger – Kämpfer:innen mit Familien sowie Zivilist:innen – in den Nordwesten verbannt.
Nach dem Ende der Herrschaft des sogenannten Islamischen Staates 2017 war das Land de facto in verschiedene Einflussgebiete zerfallen. In Nordwest-Syrien lebten ab diesem Zeitpunkt etwa 5 Millionen Menschen, 3,6 Millionen waren intern Vertriebene. In der Region Idlib hatte sich die Gruppe Hay'at Tahrir al-Scham (HTS) als stärkste Gruppe gegen andere durchgesetzt. Neben der militärischen Kontrolle des Gebiets hatte die HTS auch eine zivile Administration aufgebaut.
Der Zusammenschluss diverser bewaffneter Gruppierungen unter Führerschaft von HTS hat nun seit Ende November eine Militäroperation durchgeführt. Dass die syrische Armee die Großstadt Aleppo fast widerstandslos aufgegeben hat, führte zu weiterem Vorrücken, bis schließlich gemeinsam mit Oppositions-Gruppen auch aus Süd-Syrien am 8. Dezember 2024 die Hauptstadt Damaskus eingenommen wurde. Das kam für viele Akteur:innen überraschend.
Was bedeutet das für die Menschen?
Die Menschen in Syrien und auch die Millionen Syrer:innen, die vor dem Krieg in die ganze Welt geflohen sind, sehen mit gemischten Gefühlen auf die Entwicklung. Es herrschen einerseits große Freude und Jubel über das Ende der Assad-Herrschaft – nach mehr als 60 Jahren. Schon sein Vater hatte Syrien autoritär geführt. Viele Familien, die in voneinander getrennten Landesteilen leben, können einander nun endlich wiedersehen.
Andererseits gibt es enorme Unsicherheit und Angst, wie sich die Situation im Land entwickeln wird und ob sich die moderaten Kräfte aller Parteien im In- und Ausland auf eine friedliche Übergangsphase einigen können.
Wie wird sich die veränderte Lage auf die Fluchtsituation und die humanitäre Situation im Land auswirken?
Im Moment herrscht noch große Unklarheit, aber wir sehen schon jetzt enorme Bevölkerungsbewegungen. Teilweise versuchen Menschen, Syrien zu verlassen, beispielsweise in Richtung Libanon. Dabei steckt das Land selbst in einer tiefen Krise und militärischen Auseinandersetzungen. Es gibt Menschen, die sich auf den Weg machen, um –zumindest temporär – ihre Heimatorte zu besuchen oder um sich auf die Suche nach verschwundenen Angehörigen zu machen.
Viele geflüchtete Syrer:innen sind noch sehr skeptisch. Sie wünschen sich Garantien für Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und grundlegende Lebensbedingungen, bevor sie zurückkehren. Viele beobachten die Lage zunächst. Auch jetzt ist die humanitäre Lage in Syrien sehr kritisch und es ist kurzfristig möglicherweise sogar mit einer Verschlechterung zu rechnen.
Über 16 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, darunter Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Infrastruktur wie Krankenhäuser, Schulen und Wasserversorgungssysteme wurde im Konflikt stark beschädigt oder zerstört. Der Zugang zu grundlegenden Gütern wie Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung bleibt in vielen Gebieten schwierig und kann auch durch eine neue Übergangsregierung nicht ohne internationale Hilfe sichergestellt werden. Die mögliche Rückkehr nach Syrien von vielen Menschen wird weiteren Druck auf die nicht vorhandene Basisstruktur ausüben.
Was können Hilfsorganisationen jetzt tun?
Viele Hilfsorganisationen – auch die Bündnisorganisationen von Aktion Deutschland Hilft – sind in Syrien und den Nachbarländern seit Beginn des Konflikts aktiv und helfen trotz der komplizierten Sicherheitslage und trotz herausfordernder Logistik.
Dabei spielt die syrische Zivilgesellschaft im Exil eine entscheidende Rolle bei der humanitären Versorgung und später hoffentlich beim Wiederaufbau des Landes. Organisationen und Netzwerke, die während des Konflikts von syrischen Exilant:innen gegründet wurden, haben wertvolle Expertise, finanzielle Ressourcen und ein tiefes Verständnis für die Bedürfnisse der syrischen Bevölkerung. Diese Gruppen fungieren oft als Brücke zwischen internationalen Gebern und lokalen Gemeinschaften, indem sie kulturelle und sprachliche Barrieren überwinden und Vertrauen schaffen, auch zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen.
World Vision und weitere Bündnisorganisationen von Aktion Deutschland Hilft haben langfristige Partnerschaften mit lokalen Akteuren, die jetzt Zugang zu fast allen Landesteilen haben und Hilfe koordiniert und entsprechend der humanitären Prinzipien leisten können. Dazu gehört die Sorge für die Menschen, die durch die aktuellen Ereignisse betroffen sind sowie die Versorgung der gesamten Zivilbevölkerung, die zum einen unter massiver Armut leidet. Und zum anderen von Nahrungsmittelknappheit und mangelndem Zugang zu Basisdienstleistungen wie medizinischer Grundversorgung und sicheren Unterkünften betroffen ist.
Was waren und sind die größten Herausforderungen für Hilfsorganisationen in Syrien?
Die Situation war und ist sehr volatil und verändert sich ständig, alle Organisationen müssen sehr flexibel sein und sich anpassen. Viele Menschen leben seit langer Zeit in sehr schwierigen Bedingungen und die öffentliche und soziale Ordnung sind von Kriegswirtschaft und Mangel geprägt. Die Bedarfe sind größer als die zur Verfügung stehenden Mittel, auch weil der Konflikt schon so lange dauert und Dienstleistungen, die normalerweise Staatsaufgabe sind, von Organisationen übernommen werden mussten.
Der Großteil der humanitären Helfenden sind selbst Betroffene. Die Menschen im Nordwesten und in der türkischen Grenzregion mussten zudem noch mit den Erlebnissen und den Folgen des schweren Erdbebens im Februar 2023 umgehen.
Mit der neuen Situation stellen sich viele Fragen: Wie koordinieren wir die Hilfe in Abstimmung mit allen Organisationen und der UN am besten? Wird die Übergangsregierung dauerhaft den Zugang zu allen Landesteilen für alle Hilfsorganisationen erlauben? Wie können wir dafür sorgen, dass die verletzlichsten Gruppen – Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderung, ältere Menschen – gezielt geschützt und unterstützt werden können?
Alle arbeiten mit unterschiedlichen Szenarien, um auf die weiteren Entwicklungen bestmöglich vorbereitet zu sein und möglichst schnell und effizient die bestehenden Projekte und Hilfsmaßnahmen anzupassen.
Wie könnte es weitergehen? Was ist die Hoffnung?
Die Hoffnung ist, dass es tatsächlich gelingt, die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen und die Syrerinnen und Syrer im Prozess der Versöhnung und des Wiederaufbaus bestmöglich zu begleiten. Dabei kann die humanitäre Hilfe einen wichtigen Beitrag leisten, indem die syrische Zivilgesellschaft gestärkt und die Versorgung der Menschen so lange sichergestellt ist, bis sich die politische Situation stabilisiert und die Menschen zurückkehren können in Produktion, Landwirtschaft, soziale Berufe und Handel.
Der Wiederaufbauprozess wird Zeit in Anspruch nehmen. Doch die Menschen in Syrien sind optimistisch, dass eine Einigung gelingen, die "Sonne wieder aufgehen" und ein neues, gewaltfreies Syrien entstehen kann.
Die Bündnisorganisationen von Aktion Deutschland Hilft sind seit vielen Jahren in Syrien und den Nachbarländern im Einsatz – darunter auch World Vision. Sie sind eng mit lokalen Partnern vernetzt. Sie beobachten die aktuellen Entwicklungen genau und weiten ihre Nothilfemaßnahmen, wenn nötig, aus.
Vielen Dank, dass Sie unsere Nothilfe in Syrien mit Ihrer Spende unterstützen!
+++ Spendenaufruf +++
Aktion Deutschland Hilft, Bündnis der Hilfsorganisationen,
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