von Aktion Deutschland Hilft
Der Beginn des Krieges in Syrien jährt sich Mitte März zum 13. Mal. Das Land ist tief gespalten, die humanitäre Not ist riesengroß.
Interview zum 13. Jahrestag des Syrien-Krieges
Im Interview gibt Julian Loh, Programmkoordinator Nahost & Süd-Zentral Asien bei Help – Hilfe zur Selbsthilfe, Einblick in das Leben der Bevölkerung, die Hilfe der Bündnisorganisation sowie die Herausforderungen, vor denen Helfer:innen und Menschen in Syrien stehen.
Aktion Deutschland Hilft: Wie kann man sich das Land heute vorstellen?
Julian Loh: Als Kind denkt man ja, dass Krieg bedeutet: Ein Land kämpft gegen ein anderes. Der Krieg in Syrien ist aber nicht solch ein gradliniger Krieg. Dort hat sich aus einem Aufstand der Bevölkerung im Jahr 2011 sehr schnell eine extrem komplexe Krise entwickelt: mit verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, die wiederum verschiedenste Interessen und Hintergründe haben. Das können zum Beispiel Gebietsansprüche, Ressourcen und religiöse Motive sein.
Fest steht: Dieser komplexe Konflikt verursacht große humanitäre Not. Und das Land Syrien, in dem 2011 der Bürgerkrieg ausgebrochen ist, das gibt es heute so quasi nicht mehr.
Wie meinen Sie das, "Syrien gibt es nicht mehr"?
Heute kann man Syrien inoffiziell in mindestens drei Landesteile aufteilen, die von verschiedenen Gruppen oder De-facto-Regierungen geführt werden. Diese Gebiete sind voneinander abgetrennt, ähnlich wie früher BRD und DDR.
Es gibt die Government of Syria territories, das sind grob gesagt die westlichen Landesteile. Diese Region wird wie vor Beginn des Krieges von der Assad-Regierung gehalten, die weiterhin in der Hauptstadt Damaskus sitzt.
Das zweite Gebiet ist der Nordwesten Syriens, der im Februar 2022 von den schweren Erdbeben erschüttert wurde. Es ist nur über die Türkei zu erreichen, nicht mehr über Syrien. Die humanitäre Lage dort ist extrem kritisch, da es nur einen Grenzübergang gibt, den humanitäre Organisatoren nutzen können. Auch Teile des Government of Syria territory wurden vom Erdbeben erschüttert, der humanitäre Zugang und die Situation der Menschen sind dort ähnlich schlecht.
Dann gibt es noch den großen Nordosten mit den Gouvernements Ar-Raqqa, al-Hasaka und Teilen des Gouvernements Deir ez-Zor. Dort gibt es wieder unterschiedliche Akteure und Volksgruppen. Das Gebiet, welches zu großen Teilen von arabischstämmigen Menschen bewohnt ist, steht grundsätzlich unter Kontrolle der Kurdischen Autonomiebehörde. Das wiederum ist nicht im Sinne der aktuellen türkischen Regierung. Dort herrscht ein eigener Krieg inmitten des Syrien-Krieges; jeden Tag kommt es zu Bombardierungen. Die kurdisch kontrollierten Gebiete werden von den USA unterstützt. Die Assad-Regierung wiederum von Russland und dem Iran.
Welche Art von Hilfe benötigen die Menschen?
Meine syrische Kollegin hat zu mir gesagt: Jeder Mensch in Syrien, abgesehen von der Macht-Elite, benötigt heute irgendeine Form von humanitärer Hilfe. Die Menschen brauchen sehr vielfältige Hilfe, die Bedarfe sind komplex.
Die Stromversorgung ist zum Beispiel insbesondere im Government of Syria territory ein großes Problem, auch in Damaskus. Dort haben die Menschen vielleicht 90 Minuten Strom am Tag. Meine Kollegin hat mir erzählt: Der Kühlschrank und der Fernseher im Haus ihrer Eltern sind Relikte. Diese Gegenstände können nicht betrieben werden. Sie sind nur noch Andenken an bessere Zeiten.
Allgemein kann man sagen: Durch die Erdbeben-Katastrophe, die Pandemie und die weltwirtschaftliche Situation infolge des Krieges in der Ukraine haben sich die Krise in Syrien und die humanitäre Not der Menschen immer wieder verstärkt. Die Inflation ist so hoch und die Preise schwanken so sehr, dass sich die Menschen nichts mehr leisten können. Brot und Gas werden rationiert. Die Menschen müssen mehrere Stunden anstehen, um die Menge zu erhalten, die ihnen zusteht.
Wie sieht die Hilfe von Help – Hilfe zur Selbsthilfe in der Region aus?
Help ist im Nordosten und Nordwesten von Syrien im Einsatz. Seit den schweren Erdbeben im Februar 2023 unterstützen wir an der türkisch-syrischen Grenze betroffene Menschen mit medizinischer Hilfe, Bargeld und Lebensmittelpaketen.
Von großer Bedeutung ist, die Resilienz der Bevölkerung zu stärken – Hilfe zur Selbsthilfe eben. Dafür unterstützen wir zum Beispiel Menschen, die im Nordosten von der Landwirtschaft leben. Wasserknappheit als Folge des Klimawandels ist in der ganzen Region ein großes Problem. Daher klären wir Landwirt:innen zum Beispiel darüber auf, wie die Äcker mit möglichst wenig Wasser genutzt werden können und statten sie mit entsprechend passenden Bewässerungssystemen aus. Im besten Fall wird so nicht nur die Ernte für die eigene Familie aufgebessert, sondern es bleibt sogar noch Ertrag, der verkauft werden kann. Wichtig ist, dass die Menschen trotz sich immer weiter verschlechternder klimatischer Bedingungen weiter Nahrungsmittel produzieren können.
Seit mehreren Jahren unterstützen wir auch – etwa durch Spenden von Aktion Deutschland Hilft – die Hygieneversorgung von Menschen in Flüchtlingscamps. Das bedeutet: Jeder Haushalt, der in einem Zelt lebt, erhält monatlich Pakete mit Seifen, Zahnbürsten, Damenbinden und Windeln für Kinder und ältere Menschen – mit allem, was die Bewohner:innen der Camps brauchen, um die hygienischen Bedingungen zu verbessern.
Die Menschen haben, einfach gesagt, keine Möglichkeit zu arbeiten und können sich deshalb nicht selbst mit allem Lebensnotwendigen versorgen – sie sind komplett auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Von 12 Millionen syrischen Vertriebenen leben 6,8 Millionen innerhalb des Landes – größtenteils unter sehr schwierigen Lebensbedingungen ...
Die Menschen sind aus den unterschiedlichsten Landesteilen geflohen – und sie alle brauchen Hilfe. So unterschiedlich wie die Herkunftsorte sind auch die Gründe, aus denen sie sie verlassen haben und warum sie nicht dorthin zurückkehren können.
Viele Menschen sind aus dem Government Of Syria territory vertrieben worden – die können nicht zurück, weil die Regierung, vor der sie geflohen sind, nach wie vor regiert. Es gibt Menschen aus Syrien und dem Irak, die damals vor dem sogenannten Islamischen Staat geflohen sind. Ihre Heimatgebiete sind zwar grundsätzlich befreit, aber es fehlt an jeglicher Basisinfrastruktur wie funktionierenden Schulen, Gesundheitseinrichtungen, sauberem Trinkwasser und Einkommensmöglichkeiten. Menschen bleiben bewusst in Camps, weil ihre Situation woanders noch viel schlechter wäre.
Es gibt auch Tausende Familien, deren Männer bzw. Väter dem sogenannten Islamischen Staat angehörten. Diese Familien werden geächtet, dürfen die Camps nicht verlassen und leben quasi in Freiluftgefängnissen. Und es gibt Menschen, die schon vor Jahren aus der türkisch-syrischen Grenzregion im Osten vor den Bodenoffensiven der Türkei weiter in Richtung Süden geflohen sind.
Gibt es Lichtblicke?
Ein Licht am Ende des Tunnels, das gibt es in Syrien nicht – so antwortet zumindest meine syrische Kollegin auf die Frage. In den vergangenen Jahren gab es in den verschiedenen Landesteilen immer wieder Momente, in denen die Menschen dachten, jetzt wird es besser: als der Beschuss in Damaskus aufhörte, die Bombarierungen in Idlib vorbei waren, als der sogenannte Islamische Staat besiegt war. Doch es wurde nie besser, es ist bis heute nicht besser geworden. Stattdessen wird es schlimmer, komplexer und es kommen neue Probleme hinzu: vermehrte Stammeskonflikte, Wasserknappheit, das Erdbeben, COVID-19.
Ich weiß nicht, wie man diese Krise realistisch lösen kann und auch meine Kolleg:innen aus Syrien wissen es nicht. Die Agenden aller beteiligten Akteure sind so unterschiedlich und geopolitisch verknüpft. Lösungsansätze wie Sanktionen treffen – wie nahezu überall – nur die Zivilbevölkerung. Mehr als humanitäre Hilfe zu leisten und im Rahmen des Möglichen die Widerstandskraft der Menschen zu steigern, bleibt nicht.
Julian Loh arbeitet als Programmkoordinator Nahost & Süd-Zentral Asien bei Help – Hilfe zur Selbsthilfe, einer von mehr als 20 Bündnisorganisationen von Aktion Deutschland Hilft. Zu den Ländern in seinem Aufgabenbereich gehören neben Syrien auch Libanon und Afghanistan. Von großer Bedeutung für die Arbeit in der Region sind lokale Partnerorganisationen, mit denen Julian Loh und seine Kolleg:innen im engen Austausch stehen und seit vielen Jahren zusammenarbeiten.
+++ Spendenaufruf +++
Aktion Deutschland Hilft, Bündnis der Hilfsorganisationen,
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