Von Ali Sandeed, syrischer Flüchtling und Projektleiter einer CARE-Partnerorganisation
Etwa vor einem Jahr wollte ich einen Schleuser bezahlen, um mit einem Boot nach Europa zu gelangen. Viele Menschen in Europa denken, dass wir Flüchtlinge nicht wissen, dass die Überfahrt tödlich sein kann, dass wir die entsetzlichen Bilder von Leichen im Mittelmeer nicht gesehen haben, dass wir nicht wissen, dass tausende Menschen auf dem Meeresgrund vor den Pforten Europas begraben liegen. Aber ich verfolge die Nachrichten, und ich hatte auch gesehen, dass mehr als 500 Menschen im Oktober 2013 vor der italienischen Insel Lampedusa starben. Ich kannte die Statistiken, ich wusste um die Gefahr. Ich hatte sogar Freunde verloren, die zu den „Flüchtlingen ohne Gesicht und ohne Namen“ zählen, wie sie in den Medien genannt werden. Aber wie viele syrische Flüchtlinge, die – zusammen mit Eritreern – über die Hälfte der Bootsflüchtlinge im Jahr 2014 ausmachten, dachte ich, dies sei meine einzige Chance.
Ich bin syrischer Flüchtling aus dem palästinensischen Al Yarmouk Camp in Damaskus. Als ich noch ein Kind war, erzählte meine Großmutter mir, wie sie 1948 aus ihrer Heimat in Palästina nach Syrien fliehen musste. Sie hoffte inständig, dass ihre Kinder und Enkel niemals erleben müssen, wie es sich anfühlt, ein Flüchtling zu sein. Aber es kam leider anders. Ich wurde als palästinensischer Flüchtling geboren, und vor etwa drei Jahren wurde ich zum zweiten Mal Flüchtling. Meine Familie und ich mussten vor dem Krieg in Syrien in den Libanon fliehen. Unser Zuhause war zur Kampfzone geworden. Ich bin immer noch in Kontakt mit Freunden und Familienangehörigen, die das Yarmouk Camp nicht verlassen konnten. Manche sind bereits verhungert, andere sind gestorben, weil sie keinen Zugang zu Medikamenten oder medizinischer Versorgung hatten. Es ist eine grausame Absurdität. Sie haben manchmal Internet, aber sie haben nichts zum Essen.
Meine Freunde und Familie kennen mich als einen unverbesserlichen Optimisten. Ich liebe das Leben, ich liebe Menschen. Ich arbeitete auf Zypern, als der Krieg in Syrien ausbrauch. Selbst, als ich deswegen nicht nach Hause zurückkehren konnte, war Aufgeben das Letzte, an das ich dachte. Im Libanon begann ich, anderen Flüchtlingen zu helfen. Sie brauchten mich, und ihr Lächeln und Dank waren mein Antrieb. Jeden Morgen stand ich auf, um für DPNA, eine Partnerorganisation von CARE, als Freiwilliger zu arbeiten. Etwa vor einem Jahr hielt ich es jedoch nicht mehr aus, all das Leid der Flüchtlinge, der Syrer, der Palästinenser, der syrischen Palästinenser. Ihre Trauer, ihre zerstörten Hoffnungen und Träume nahmen mir die Luft zum Atmen. Und ich dachte auch an mein eigenes Leben, meine eigene Zukunft. Ich hatte die Hoffnung verloren. Vor dem Krieg in Syrien lag mein ganzes Leben vor mir, eine vielversprechende Zukunft. Aber dann, mit nur 27 Jahren, der plötzliche, erzwungene Stillstand meines vorherigen Lebens. Ich konnte nicht legal meine Profession ausführen. Ich hatte studiert, Geld, einen guten Job als Ingenieur. Plötzlich stand ich da, und hatte nichts mehr. Flüchtling zu sein bedeutet auch, dass Dir Deine Zukunft, Deine Träume weggenommen werden.
Ich bin nicht an Bord des Schlepperbootes gegangen. Nach langen Diskussionen mit meiner Familie, meinen Freunden, bin ich immer noch im Libanon und unterstütze Menschen, die wie ich fliehen mussten. Ich leite ein Projekt von CAREs Partnerorganisation, und bilde andere Freiwillige aus. Flüchtlinge brauchen dringend humanitäre Unterstützung. Die Flüchtlinge, mit denen ich täglich in Kontakt bin, waren Ingenieure wie ich selbst, manche waren Ärzte, Lehrer, Bauern oder Angestellte. Wir führten ein ganz normales Leben. Und obwohl wir Europa sehr schätzen, sehen wir den Kontinent nicht blind als „Himmel auf Erden“.
Wie ich, träumen die meisten Flüchtlinge davon, in ihre Heimat, zurück nach Syrien zu kehren. Aber wenn es keinen Frieden gibt, wenn die Nachbarländer wie Libanon mit mehr als vier Millionen Flüchtlingen weiterhin am Rande ihrer Kapazitäten sind, scheint Europa für manche die letzte Chance auf ein würdevolles Leben zu sein. Wir Menschen sind doch alle in dieser Hinsicht sehr ähnlich: Wir lieben unsere Freunde, unsere Familien, unser Zuhause. Das ist nichts, was man mal so eben aufgibt.
Ich gucke täglich die Nachrichten, ich verfolge die aktuellen Diskussionen nach den erneuten Flüchtlingskatastrophen der letzten Tage. Politiker sprechen über die Notwendigkeit, dass die EU ihre Rettungsmissionen wieder aufnimmt; dass syrische und andere Flüchtlinge bereits vor dem Antritt einer möglichen tödlichen Überfahrt Asyl beantragen können. Es berührt mich, dass so viele Menschen weltweit ihre Solidarität, ihr Mitgefühl bekunden. Dass es ihnen nicht egal ist, was mit uns passiert. Sie verstehen, dass ich mir nicht ausgesucht habe, als palästinensischer Syrer geboren zu werden, genauso wenig, wie Ihr Euch dafür entschieden habt, als Europäer zur Welt zu kommen. Ich wünsche meine Situation niemandem. Aber ich hoffe, dass wir diese Tragödien zum Anlass für Veränderung nehmen können. Es ist nur ein paar Generationen her, dass Europäer ähnliches Leid erfahren haben wie ich. Viele Menschen in Europa waren selbst Flüchtlinge, als sie jung waren. Sie waren der Anlass, der Grund für große völkerrechtliche Projekte wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention! Ich hoffe inständig, dass Menschen in Europa sich daran und an das Band der Menschlichkeit, das immer noch die stärkste Medizin gegen Verzweiflung und Machtlosigkeit ist, erinnern.
Aber mehr als alles andere hoffe ich, dass europäische und andere Politiker weltweit endlich wieder ernsthaft Friedensgespräche führen. Humanitäre Hilfe, eine andere Flüchtlingspolitik: Das ist alles wichtig. Aber letztendlich liegt die große Hoffnung eines jeden Flüchtlings darin, nicht mehr Flüchtling genannt werden zu müssen, und an den Ort zurückzukehren, den sie am meisten lieben: ihre Heimat. Frieden ist und bleibt die einzige langfristige Lösung.
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