Seine schmalen Finger umkreisen sich ununterbrochen selbst. Dann folgt das Abzählen, so als ob ständig nach einer Zahl gesucht und sie nicht gefunden wird. Gedankenverloren starren die braunen Augen irgendwohin. Es sieht aus, als ob sie darüber wachen, dass der Deckenventilator nicht herabfallen möge. Schließlich schauen die Augen die Gäste aus Deutschland an. Weiße, ungewohnte und unbekannte Gesichter, aus denen lauter Fragen herausplatzen. Es wirkt, als ob sich der Junge langweilt.
Hassan ist gerade zwölf geworden. Mit halb verschränkten Beinen sitzt er auf dem blanken, unverputzten Boden eines Zimmers. Kunststoffquadrate sind aufgetragen worden, mehr nicht. In diesem und einem weiteren leben er jetzt, mit insgesamt vierzehn Personen auf höchstens 25 Quadratmetern. Irgendwo im Bekaa-Tal ist er mit seiner Familie untergekommen. Aber niemand soll wissen, wo genau. Er ist nicht der einzige Flüchtling, der Angst hat wie die vielen Tausende von Flüchtlingen aus Syrien ebenso. "Man weiß ja nicht, was noch passieren wird," sagt er, zögerlich und so leise, dass seine Mutter ihn bittet, es zu wiederholen. Er hat „einen Schub gemacht“, ist hochgewachsen für sein Alter und schlank von Statur, fast dünn. Mit seiner Größe könnte ein Basketballspieler werden oder es im Volleyball versuchen. Aber ihm ist gar nicht nach Sport.
Ihn beschäftigt seine Flucht und die seiner Familie mehr als alles andere. Jene Flucht vor Gewehrsalven und Bomben in Syrien, die ihn erst vor kurzer Zeit hierher gezwungen hat. Die Tage und Wochen davor waren schrecklich. "Unser Vater hat uns in den Keller geschickt. Da war es sicherer," sagt er. Von dort unten hörten sie die Flugzeuge und das ständige, nicht enden wollende "Bumm! - Bumm!" der explodierenden Bomben und Granaten. Wo sie wirklich einschlugen, wussten sie nicht. Aber sie hörten sie. Stundenlang hockten sie da unten im Keller, konnten nichts sehen, ihnen war schwarz vor Augen und - sie hatten Angst.
Hassan will einmal Pilot werden, sagt er. Warum, weiß er gar nicht genau. Aber er findet es eine schöne Vorstellung, irgendwohin fliegen zu können. Vor allem dorthin, wo es keinen Krieg gibt und es wieder so ist wie vorher. Vorher, das war eine Zeit, die nicht einmal vier, fünf Monate vorüber ist. Da spielte er mit seinen Freunden in der Straße, in der er mit seiner Familie wohnte. Er trieb Sport mit ihnen, ging in die Schule, heckte so manchen Unsinn aus, für den er auch schon mal Ärger bekam. Er hatte ein unbeschwertes, schönes Leben. Und jetzt vermisst er seine Freunde. „Nein,“ er stockt. Er zögert einen langen Moment, ob er weitersprechen soll. „Ich weiß nicht, wo sie sind,“ sagt er schließlich. Eigentlich meint er: Ich weiß nicht, ob Jajal oder Mohmmed oder Ihsan überhaupt noch leben.
Er hat jetzt nur noch einen einzigen Wunsch. Einen nur, aber einen großen, einen ohne jeden Kompromiss, zu dem er bereit wäre. Er wünscht sich einfach, dass der Krieg aufhört und die Gewalt nicht mehr regiert in seiner Heimat. Er will wieder nachhause. Er will mit seinen Freunden Unsinn aushecken und Oliven pflücken. Er will mit seinen Freunden das Spiel spielen, das so etwas wie Olivenkern-Ziel-Spucken heißt, bei dem alle eine Dose treffen müssen. Ganz kurz lacht der lange Lulatsch. Er will einfach so leben, wie es Jungs in seinem Alter zuhause in Syrien bisher immer konnten.
Als er davon spricht, schießen ihm die Tränen in die Augen und er hört mit dem Sprechen auf. Für einen so großen Jungen ist das etwas. In seiner Kultur weinen Jungs nicht, schon gar nicht vor anderen.
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