von Gyde Jensen
Das Coronavirus betrifft uns alle. Doch gerade in diesen Zeiten dürfen wir die Millionen Menschen in Not nicht vergessen. Themen wie die europäische Flüchtlingspolitik etwa müssen weiter diskutiert werden, meint Bundestagsabgeordnete Gyde Jensen – dringender denn je.
Im Gastkommentar erklärt die Politikerin, warum schnelles Handeln in Zeiten von Corona so wichtig ist und wie das in Europa funktionieren kann.
Grenzpolitik: Flüchtlinge in Griechenland und der Türkei
Noch vor vier Wochen hatte der türkische Präsident Erdogan Tausende Geflüchtete, die derzeit in der Türkei ausharren, an den Grenzübergang zu Griechenland geschickt. Wohl um Druck auf die EU aufzubauen und von innenpolitischen Problemen und Verlusten im Syrienkrieg abzulenken.
Inzwischen hat Erdogan die Grenze zu Griechenland wieder geschlossen.
Das Asylrecht ist ein Menschenrecht
Die Menschenrechtsverletzungen, die während dieser Phase an der griechischen Grenze begangen worden sind, müssen jetzt umfassend aufgearbeitet werden. Insbesondere die spontane Aussetzung des Asylrechts dürfen wir als EU nicht einfach so hinnehmen.
Das Asylrecht ist ein Menschenrecht mit besonderem Stellenwert, das auf dem absoluten – also nicht einschränkbaren – Verbot von Folter und anderer unmenschlicher Behandlung aufbaut. Solange wir uns auf Erdogan als "Partner" in der Flüchtlingsfrage verlassen müssen, wird sich der Druck auf die EU-Außengrenzen wieder und wieder erhöhen.
Europas Flüchtlingspolitik – wichtig trotz Pandemie
Das liegt auch daran, dass wir in Europa nach wie vor kein funktionierendes gemeinsames Asylverfahren haben. Dieses Thema darf die Europäische Kommission trotz Corona-Pandemie nicht von der Prioritätenliste streichen, denn hierfür brauchen wir schnelle Lösungen.
Eine ganz neue Eskalation könnte uns schon sehr schnell zum Handeln zwingen: Wir sind als EU auf einen Corona-Ausbruch in den Flüchtlingslagern in Griechenland nicht vorbereitet.
Coronavirus: Katastrophale Folgen für Flüchtlingslager
Das neuartige Virus bedroht die Würde von Millionen von Menschen auf dieser Erde. Mehr als 70 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Viele von ihnen wohnen in Lagern auf engstem Raum in provisorischen Unterkünften unter völlig unzureichenden hygienischen Bedingungen.
Sie werden beständig in ihrem Recht auf menschenwürdige Unterbringung, auf Zugang zu Trinkwasser und Sanitärversorgung, auf Gesundheitsversorgung und das Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren zur Feststellung der eigenen Schutzbedürftigkeit gebracht.
Dazu befinden sich viele Flüchtlingslager in Drittländern, die selbst über ein äußerst fragiles Gesundheitssystem verfügen. Wenn dort das Corona-Virus zu grassieren beginnt, könnte das katastrophale Folgen haben.
Hilfe für Menschen in Not aufstocken
In einer Situation wie dieser ist es wichtig und auch notwendig, dass sich unsere Solidarität zunächst auf die Menschen in unserer unmittelbaren näheren Umgebung fokussiert. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass 100 Millionen Menschen weltweit auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.
Die Bereitstellung der finanziellen Mittel zur Bekämpfung der Corona-Krise in Deutschland darf deshalb nicht dazu führen, dass die Bundesregierung ihre Zusagen im Bereich der humanitären Hilfe nicht erfüllt oder reduziert. Im Gegenteil: Jetzt müssen vor allem die flexiblen Mittel weiter aufgestockt und die bereits bewilligten unbürokratisch umgewidmet werden.
Die Vereinten Nationen habe vor einer guten Woche die Staatengemeinschaft zu einer Beteiligung an einem Corona-Notfallfonds in Höhe von 2 Milliarden US-Dollar gebeten. Deutschland sollte sich hier, wie auch bereits in der Vergangenheit, großzügig beteiligen.
Helfen, wo wir helfen können
Für uns als EU gebietet die Situation aber auch, dass wir dort direkt helfen, wo wir eben helfen können. Das ist etwa in Nordsyrien nicht der Fall, in unserem Mitgliedstaat Griechenland dagegen schon.
Ich habe schon am 19. März gefordert, dass die Bundesregierung sich auf europäischer Ebene dafür einsetzt, dass die EU einen Notfallplan für die Flüchtlingslager in Griechenland konzipiert. Die Lage dort, insbesondere auf Lesbos, wird sich verheerend verschlechtern, sobald es dort die ersten Corona-Fälle gibt.
Bei der gemeinsamen Beschaffung von medizinischem Material und Schutzausrüstungen müssen wir das als EU mitberücksichtigen.
Kein Platz für zögerliches Handeln
In Deutschland müssen wir auch unabhängig von der EU darüber diskutieren, wie wir Griechenland unterstützen können, falls eine Evakuierung der Lager notwendig wird. Deutschland hatte sich bereits als Mitglied einer Koalition der Willigen dazu verpflichtet, bei der Aufnahme von 1.500 Kindern und deren nahen Verwandten seinen Beitrag zu leisten.
Momentan geht es in der Sache nicht weiter, wohl auch weil Auswärtiges Amt und Innenministerium über die genaue Anzahl der Aufzunehmenden streiten. Dabei geht es um 150 Menschen mehr oder weniger. Für ein solches Gerangel darf in einer Situation wie dieser schlicht kein Platz sein.
Zivilisatorische Bewährungsprobe: Wir dürfen nicht scheitern
Wir leben in einem historischen Moment. Und es sind Momente wie diese, auf die wir noch in Jahren und Jahrzehnten zurückblicken werden und uns die Frage stellen müssen, ob wir alles in unserer Macht Stehende getan haben, um in der Corona-Krise die Würde möglichst vieler Menschen zu bewahren.
Dies ist eine zivilisatorische Bewährungsprobe. Wir dürfen an ihr nicht scheitern.
Gyde Jensen ist FDP-Politikerin und seit 2018 Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Seit Mai 2019 ist die Bundestagsabgeordnete außerdem Kuratoriumsmitglied bei Aktion Deutschland Hilft.
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