Zwei Mütter aus Fukushima über das Leben mit der diffusen Gefahr und über die Erholung in einem vom ASB unterstützten Ferienhaus
Ins Deutsche übersetzt bedeutet die Präfektur Fukushima „Glücksinsel“. Ausgerechnet. Seit dem 11. März 2011 steht der Begriff Fukushima gemeinsam mit Tschernobyl weltweit für die Folgen einer nuklearen Katastrophe. Fukushima-City liegt rund 50 Kilometer von dem havarierten Atomkraftwerk entfernt. Mitten in der Stadt leben Ai Yokoyama und Mieko Saito mit ihren Familien. Das Leben der beiden Mütter hat sich dem verheerenden Unglück radikal verändert – es ist ein Leben in ständiger Angst vor der unbekannten Gefahr.
Auch Kanako Decke-Cornill ist Mutter. Doch zusammen mit ihrem deutschen Ehemann und den beiden Kindern lebt sie im 520 Kilometer südwestlich gelegenen Kyoto. Das Schicksal ihrer Landsleute in der Katastrophenregion hat Kanako Decke-Cornill tief bewegt. Gemeinsam mit anderen Eltern gründete sie eine Initiative, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Familien aus Fukushima zur Erholung in ein Ferienhaus in der Region Nagano einzuladen. Der Arbeiter-Samariter-Bund unterstützt die Initiative: Der Bündnispartner von Aktion Deutschland Hilft finanziert unter anderem die Anfahrten aus Fukushima und Kyoto sowie die benötigten Lebensmittel.
Frau Yokoyama, auch in Fukushima-City wackelten
am 11. März um 14:46 Uhr die Wände. Wie haben Sie das Erdbeben erlebt?
AI YOKOYAMA: Ich war zu diesem Zeitpunkt im ersten Stock unseres Hauses, um meine beiden Kinder ins Bett zu bringen. Sie sollten ihren Mittagsschlaf halten. Ich habe ihnen gerade aus einem Buch vorgelesen, als die Erde bebte. Ich schnappte mir die beiden, um mit ihnen nach draußen zu flüchten. Wir hatten allerdings große Mühe, überhaupt die Treppe hinunterzukommen – es wackelte unaufhörlich.
Wann haben Sie dann zum ersten Mal von den Geschehnissen
im Atomkraftwerk erfahren?
AI YOKOYAMA: Am nächsten Tag. Aus dem Fernsehen. Auch wenn ich natürlich noch nicht einschätzen konnte, welche Folgen die Ereignisse für uns haben würden, so wusste ich doch, dass es wohl richtig gefährlich werden könnte.
Frau Saito, wie haben Sie die Informationslage in den Tagen und Wochen danach wahrgenommen?
MIEKO SAITO: Als sehr schlecht. Der AKW-Betreiber Tepco und die Regierung haben nur immer wieder betont, dass die Lage nicht so schlimm wäre. Sie haben Unmengen an Messwerten veröffentlicht, aber niemand konnte erklären, was diese Werte letztlich konkret bedeuten. Es wurde nur davon abgeraten, Spinat oder anderes Gemüse zu essen. Externe Experten kamen in den Medien erst nach einigen Wochen zu Wort. Und diese sagten dann, dass die Lage richtig dramatisch sei.
In Tokio oder Kyoto wurden in dieser Zeit immer wieder Demonstrationen gegen die Atomenergie abgehalten. In Fukushima-City hingegen ist es in dieser Hinsicht erstaunlich ruhig geblieben.
Ai Yokoyama : Das stimmt, erst im Oktober hat es eine erste kleine Demonstration bei uns gegeben. Ich hätte gerne daran teilgenommen, meine Schwiegereltern waren aber strikt dagegen. Sie meinten, dass die Demonstranten alles Kommunisten seien.
Wie hat sich das Leben in Fukushima-City im Vergleich zu der Zeit vor der Katastrophe verändert?
AI Yokoyama : Das Leben hat sich drastisch verändert. Gerade in den ersten Wochen nach der Katastrophe waren keine Kinder draußen auf den Straßen zu sehen. Und die Erwachsenen trugen alle Mundschutz und langärmlige Kleidung. Niemand trocknete seine Wäsche im Freien. Auch das Essen ist ein großes Thema …
Mieko Saito : Das stimmt. Wir essen keinerlei Gemüse, das aus der Präfektur Fukushima stammt. Außerdem verzichten wir weitgehend auf Fisch. Stattdessen gibt es verstärkt Bohnen, Tofu, Reis und Algen.
Haben Sie Fukushima in der Zeit nach dem 11. März regelmäßig verlassen?
Mieko Saito : Ja. Wir sind an den Wochenenden in den Norden gefahren, um uns etwas zu erholen. In den Süden Richtung Tokio konnten wir nicht fahren. Den Tankstellen war es untersagt, an Autos mit Fukushima-Kennzeichen Benzin auszugeben. Die Regierung wollte nicht, dass kontaminierte Autos in den Großraum Tokio gelangten. Wir haben uns in dieser Zeit wie Aussätzige gefühlt …
Ai Yokoyama : … daher war es auch ein großes Glücksgefühl, als wir von der Elterninitiative in das Ferienhaus nach Nagano eingeladen wurden. Wir durften erleben, dass uns die Mütter aus Kyoto wie ganz normale Menschen behandelt haben.
Wie waren die Tage in Nagano?
Mieko Saito : Absolut traumhaft. Wir haben zum Beispiel draußen gepicknickt. In der freien Natur. In Fukushima ist das undenkbar geworden. Die Kinder konnten in der Sonne spielen. Ohne Mundschutz. In normalen TShirts. Wir wurden massiert, wir haben alle zusammen gekocht, wir sind mit den Hunden spazieren gegangen, wir durften uns eine afrikanische Tanzaufführung ansehen. Wir alle haben während dieser Zeit nicht ein einziges Mal über die Strahlenprobleme gesprochen.
Denken Sie denn darüber nach, aus Fukushima wegzuziehen?
AI Yokoyama : Ja, das tun wir. Aber es ist nicht so einfach. Mein Mann arbeitet als Redakteur bei einer Lokalzeitung. Er ist seit der Katastrophe praktisch im Dauereinsatz. Die hohe Arbeitsbelastung und die allgemeinen Lebensumstände
haben ihn krank werden lassen. Er leidet unter Hautproblemen und Depressionen. Ich selbst habe in den letzten Monaten viele graue Haare bekommen. Wenn sich die Lage etwas beruhigt hat und es uns etwas besser geht, werden wir sehen, ob es möglich ist, woanders neu anzufangen. Ich kenne jedenfalls zehn Familien, die Fukushima bereits dauerhaft verlassen haben.
MIEKO Saito : Für uns ist das kein Thema. Wir wollen unsere Kinder nicht aus der vertrauten Umgebung rausreißen. Außerdem ist es natürlich eine finanzielle Frage. Ein Neuanfang ist nicht so einfach.
Wie schätzen Sie die Zukunft der Atomenergie in Japan ein?
Ai Yokoyama : Ich kann nur hoffen, dass es irgendwann gelingt, die Atomkraft auf ein Minimum zu reduzieren. Doch ich glaube nicht daran. Die japanische Atomlobby ist weiterhin sehr stark – und es wird natürlich sehr viel Geld mit der Atomenergie verdient. Uns Bürgern bleibt derzeit nur, Energie zu sparen. Wir stellen zum Beispiel unseren Kühlschrank auf die niedrigste Stufe, lassen Lichter nicht unnötig brennen und ziehen die Stecker von Geräten aus der Steckdose. Außerdem haben wir Solarzellen auf unserem Dach installiert.
Waren Sie bereits vor der Katastrophe gegen Atomenergie?
AI Yokoyama : Nein, das war ich nicht. Man hat es als gegeben hingenommen.
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