Marconson verlor nicht nur sein Bein und seine Cousine
Am Nachmittag des 12. Januar 2010 nahm der zwölfjährige Marconson an den Abendkursen seiner Schule in Léogâne in Haiti teil. Dann kam das Erdbeben und das Klassenzimmer stürzte über ihm zusammen und zerquetschte sein Bein. Fünf Tage lang saß er unter den Trümmern fest. Nach seiner Rettung kam er sofort ins Krankenhaus, wo er unter Narkose gesetzt wurde. Als er wieder aufwachte, hatte man sein Bein bereits amputiert. Marconson erzählt, dass dieser Schock für ihn traumatisch war. Doch es kam noch schlimmer: Bei dem Erdbeben verlor seine ältere Cousine ihr Leben, als das Dach des Familienhauses zusammenbrach. Sie war nicht nur seine Cousine, sondern wie eine Mutter für ihn.
Zusammen mit einem Schulfreund, der seine Mutter und Schwester in dem Erdbeben verloren hatte, kam Marconson zum psychosozialen Team der Johanniter. Zunächst nahm er an einer Kinder-Therapie-Gruppe teil, wo er während eines Spiels in Tränen ausbrach. Andere Kinder in der Gruppe berichteten, dass er in der Schule und zu Hause immer weine. Nach diesem ersten Treffen bekam er individuelle Beratungsgespräche.
Die Symptome zeigen sich so: Marconson weint oft, besonders wenn es um sein amputiertes Bein geht. Er bekommt Herzklopfen, wenn er an sein Bein denkt. Außerdem leidet er unter Appetitlosigkeit, Traurigkeit, Kopfschmerzen, Alpträumen, sozialer Isolation, sinkenden schulischen Leistungen, Mangel an Konzentration, Angst und Schlaflosigkeit. Marconson sieht immer wieder die Bilder des Erdbebens, der Trümmer und des Krankenhauses vor sich und manchmal fragt er sich, warum er nicht tot ist.
Derzeit sieht er seine Cousine jede Nacht in seinen Träumen. Sie ist in Purpur gekleidet und greift nach ihm. Marconson glaubt, dass seine Cousine seinen Tod will, damit sie zusammen sein können. Er freut sich, dass er sie in seinen Träumen sehen kann, aber wenn er aufwacht, ist er starr vor Angst, weil die Toten auf dem Friedhof bleiben und nicht in jemandes Kopf oder Haus gelangen sollten. In der Schule muss er ständig an das Erdbeben denken und nässt sich ein. Er trägt seine Beinprothese nur selten, weil die Kinder sich darüber lustig machen. Sie nennen ihn "Skelett" und "Kokobe" (kreolisch für „Krüppel“).
In den ersten therapeutischen Sitzung hat Marconson sich gewünscht, nicht mehr seine Cousine in seinen Träumen sehen zu müssen und sich in der Schule wieder besser konzentrieren zu können, sich nicht mehr einzunässen und sich nicht mehr wie ein kleines Kind zu benehmen. Er hat nicht nur sein Bein und seine Cousine verloren, sondern auch seine Hoffnungen und Träume für die Zukunft und seine Identität als heranwachsender Junge.
Die Johanniter geben Marconson wieder Mut
Die Johanniter in Leogane stehen Marconson bei seiner Trauer um seine sichtbaren und unsichtbaren Verluste bei. Sie arbeiten mit einer Maltherapie. Dabei wollen sie seine positiven und negativen Erinnerungen an die Schule erforschen, um so die traumatischen Erinnerungen zu neutralisieren. In Bildern drückt Marconson aus, wie er sich fühlt, wenn die anderen Kinder ihn „Skelett“ oder „Kokobe“ nennen. Um einen positiven Bezug zu seiner Beinprothese zu bekommen, durfte er seinen Namen darauf schreiben. Außerdem verleihen Zeichnungen und Aufkleber dem „neuen Bein“ eine individuelle Note. Die Johanniter haben zusammen mit Marconson eine Methode entwickelt, den Beschimpfungen der anderen Kinder standzuhalten. Er denkt einfach daran, wie er mit seinem besten Freund am Strand spielt und sagt sich immer wieder, dass er stark ist.
Marconson hat Dinge, die ihn an seine Cousine erinnern, gesammelt und erzählt den Johannitern glückliche und traurige Geschichten von ihr. So muss er nicht automatisch auch an das Erdbeben denken, wenn er an sie denkt. Zusammen mit den Johannitern hat er andere Bedeutungen für seinen Traum von seiner Cousine gesucht, z. B. dass sie nun ein Engel ist und ihn beschützen will, oder dass sie hofft, dass es ihm gut geht, er glücklich ist, zur Schule geht und gut schlafen kann.
Die Johanniter haben der Lehrerin und Marconsons Mutter erklärt, dass er in der Schule abgelenkt ist und sich einnässt, weil dieser Ort traumatische Erinnerungen in ihm auslöst. Außerdem wurden Lehrer und Eltern in Léogâne über die Symptome von traumatisierten Kindern und Tipps zum Umgang mit ihnen, sowie über die Arbeit mit behinderten Kindern aufgeklärt.
Marconson hat nicht eine einzige Therapiesitzung versäumt und kommt immer pünktlich. Nach und nach hat er Vertrauen zu den Therapeuten gefunden und erzählt ihnen sogar kleine Geheimnisse oder schreibt sie in sein Büchlein, statt sie laut auszusprechen. Marconson versteht nun, warum ein Trauma dazu führen kann, dass man sich wie ein kleines Kind fühlt. Er weiß nun auch, dass das eine völlig normale Reaktion nach einem so schrecklichen Erlebnis ist. Die Erkenntnis, dass es nicht seine Schuld ist, verhilft ihm zu neuem Selbstbewusstsein. Marconson trägt jetzt auch regelmäßig seine Beinprothese. Wenn er an seine Cousine denkt, denkt er nicht mehr ausschließlich an das Erdbeben, sondern auch an all die schönen, glücklichen Erlebnisse mit ihr. Die Albträume kommen nicht mehr so häufig. In den Bilderbüchern erzählt Marconson seine Geschichte, die nicht nur von Verlust und Angst handelt, sondern auch von Mut und Stärke; und er erzählt von seiner Cousine, die er nie vergessen wird.
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