Auf einem kleinen Markt im Flüchtlingslager Tetegu breitet ein junges Mädchen ein Häufchen silbrig glänzender Fische und ein paar Tomaten aus. Schüchtern, aber mit einem gewinnenden Lächeln, versucht es den Blick von Kunden auf sich zu lenken. Zu lange darf das Warten auf vielleicht 100 Shillinge nicht dauern, denn die Sonne scheint erbarmungslos auf den Markt. Wegen der Fische, die sonst anfangen zu stinken und wegen des kleinen Jungen, der sich an den Rock des Mädchens klammert. Er wird schon unruhig. Da nimmt sie ihn schnell an die Brust. Es muss also ihr Kind sein.
Mit der Entführung endete ihre Kindheit
Mit nur 14 Jahren ist Vickie Apio Mutter eines 20 Monate alten Jungen, den sie auch allein durchbringen muss, und jüngstes Mitglied des „Kindmütter“-Clubs Ruot Omiyo im Gulu-Distrikt von Nord-Uganda. Wenn man sie mit den anderen Mädchen des Clubs zusammen tanzen und singen sieht, glaubt man nicht, eine „Rebellen-Braut“ vor sich zu haben. Aber viele Männer und Frauen ihrer Umgebung sehen genau das in ihr und nennen sie auch so.
Lehrerin war Vickie in ihren Zukunftsträumen, als sie noch ein elfjähriges Mädchen vom Dorf war. Doch die in Norduganda berüchtigte Lords Resistance Army (zu deutsch: Widerstandsarmee des Herrn) - eine Mitte der achtziger Jahre entstandene Rebellen-Gruppe, die skrupellos Kinder als Soldaten und Sexsklavinnen missbraucht – ließ es nicht zu, dass Vickie über die ersten Schuljahre hinauskam. Die Rebellen entführten das Mädchen eines Abends für ihren Buschkrieg, der nun schon mehr als 20 Jahre andauert und fast zwei Millionen Menschen entwurzelt hat.
Die Rebellen drohten den Kindern mit dem Tod
„Es ging alles sehr schnell“, erzählt Vickie, nachdem sie den Markt verlassen und ihr Kind in ihrer Rundhütte versorgt hat. „Ich hatte mit mehreren Kindern wie jeden Abend das Dorf verlassen, weil ja schon so viele Kinder aus ihren Häusern entführt worden waren. Meine Freundin und ich machten uns gerade an unserem geheimen Schlafplatz für die Nacht fertig, als wir plötzlich von Männern umringt wurden. Sie zeigten direkt mit ihren Gewehren auf uns. Ich hatte so große Angst, dass ich nicht um Hilfe schreien konnte.“
Die Rebellen sagten: “Entweder ihr kommt mit oder ihr seid tot.” Vickie wollte leben, deshalb ging sie mit und beschloss ihnen zu gehorchen. „Ich hoffte nur inständig, dass sie meine Mutter und meine jüngeren Schwestern, die in der Nähe schliefen, nicht finden würden.“ Mit einem Seil banden die Rebellen die Hände der Mädchen zusammen und trieben sie vor sich her. „Schon im nächsten Dorf zwangen sie wieder Kinder mit zu gehen, holten sich die Vorräte und zündeten die Hütten an. Wir Kinder mussten die Beute auf dem Kopf tragen und wurden dabei genau beobachtet”, erinnert sich Vickie, knetet dabei heftig ihre Hände.
Niemand wagte davonzulaufen, denn die Entführer drohten mehr als einmal damit, jeden Versuch mit dem Tod zu bestrafen. Bei Tagesanbruch hatten sie schon eine große Strecke im Nachbardistrikt zurückgelegt. Von dort ging es Richtung sudanesische Grenze, da die LRA ihre Lager in den Südsudan verlegt hatte. An Einzelheiten des Marsches mag Vickie gar nicht mehr denken, weil sie Stoff für düsterste Alpträume bieten. Nur soviel gibt sie preis: „Ich wurde fast jeden Tag geschlagen, weil ich den Rebellen zu langsam war. Zur Strafe musste ich menschliche Totenköpfe als Kissen zum Schlafen benutzen.“
Schockierende Berichte ehemaliger Kindersoldaten
Hunger und vor allem Durst quälten die Kinder. „Zuerst aßen wir die geraubten Sachen, zum Beispiel Erdnüsse und rohe Cassava. Als die aufgebraucht waren, mussten wir Gras und Blätter essen.“ Das erzählt Vickie ganz schmucklos und nüchtern. „Wir wissen aus Berichten von anderen ehemaligen Kindersoldaten, dass mehr Kinder an Durst und Entkräftung im Busch gestorben sind als durch Kampfeinsatz oder durch Strafaktionen der Rebellen“, ergänzt Bettina Baesch, die seit mehreren Jahren Rehabilitationsprojekte für Kindersoldaten und andere minderjährige Kriegsopfer in Uganda betreut.
Vickies nächster Albtraum begann in dem Moment, als ihr der Kommandeur der Gruppe ein Foto zeigte und auf den darauf abgebildeten Mann deutend sagte: „Das ist bald dein Ehemann.“ Einige Tage später nahm sie der fremde Mann in Besitz. Die Vergewaltigung reichte den anderen aus, um Vicky als „offizielle Ehefrau“ des 17 Jahre älteren Oting Oting zu betrachten. Damit galt sie auch als Soldatin und bekam ein Gewehr, das sie zur Verteidigung gegen Soldaten der ugandischen Armee einsetzen sollte.
Einige Monate später ergab sich eine riskante Möglichkeit zur Flucht. In der Nähe der sudanesischen Grenze wurden die Rebellen von einer Armee-Einheit überrascht und angegriffen. „Anstatt auf jemanden zu schießen, habe ich mein Gewehr weggeworfen und rannte davon so schnell ich konnte, hoffend, dass mich kein Rebell oder Soldat verfolgen würde.“ Irgendwann schlief sie dann erschöpft im Busch ein, wanderte am nächsten Tag ziellos weiter, bis sie vier Erwachsenen in die Arme lief. Die brachten sie zum Rehabilitationszentrum von World Vision in Gulu.
Hilfe für befreite Kindersoldaten
Das durch ein schweres Eisentor von der Außenwelt abgeschirmte Zentrum kümmert sich seit 1995 um befreite und entflohene „Kindersoldaten“. Sie können sich körperlich von den Strapazen erholen, werden medizinisch versorgt und psychologisch betreut, später auch beim schwierigen Prozess der Wiedereingliederung in die Gesellschaft unterstützt. Jeder einzelne Fall wird auch dokumentiert. Da im Laufe der Jahre mehr als 10.000 Kinder ihre Erlebnisse erzählt und teilweise auch gemalt haben, könnten die Akten im Büro des Zentrums wahrscheinlich locker das dickste und schwerste Geschichtsbuch der Welt füllen.
Vickie hat Anfang 2007 einer Therapeutin gegenüber gesessen und versucht, das abrupte Ende ihrer Kindheit zu verarbeiten. Voller Hoffnung und Freude über ein baldiges Wiedersehen mit ihrer Familie sicherlich, aber auch nicht ohne Angst. Hatten nicht andere Rückkehrer schon erlebt, dass ihre Heimatdörfer zerstört und ihre Familien umgekommen oder in alle Winde zerstreut waren? Gab es nicht auch Berichte von Racheakten an geflohenen Kindersoldaten?
Im Zentrum erfuhr Vickie auch, dass sie schwanger war. „Als ich das hörte, war mir ganz elend zumute. Wie sollte ich ein Kind versorgen? Ich malte mir auch aus, dass man mich in meinem Dorf als Schande empfinden würde. Und zur Schule konnte ich mit einem Kind auch nicht mehr gehen.“ Immer wieder kamen ihr diese Gedanken, während ihr Bauch runder wurde, doch immerhin konnte sie sie im Zentrum mit anderen teilen und Rat suchen.
Wie sich nach einiger Zeit herausstellte, lebten Vickies Mutter und die jüngeren Schwestern nicht mehr im Dorf, sondern im Flüchtlingslager Tetugu. Auch sie waren den Attacken der LRA lebend entkommen, anders als der Vater, den die Rebellen bei einem ihrer Überfälle töteten.
Nach der Geburt ihres Sohnes Steven nahm sich Vickie ein Herz und suchte den Rest ihrer Familie auf. „ Es war ein Wiedersehen mit vielen Tränen“, sagt die 14jährige Teenagerin, in einem Moment neugierig-fröhlich die Besucherin aus Deutschland musternd, im anderen Moment nachdenklich und traurig auf den Boden blickend. Den Wiedersehenstränen sollten noch viele andere folgen, denn es gab kein Zurück in die Schule, dafür viel verletzendes Gerede. „Die Leute hier denken, dass alle entführten Kinder andere getötet hätten und dass sie es bestimmt wieder tun werden.“ Auch über ihr Kind konnte sich Vickie kaum freuen, erinnerte es sie doch immer wieder an den Mann, den sie nie wiedersehen wollte.
Die Hilfsorganisationen ermöglichen den Mädchen einen Neustart
Stevens Geburtsjahr war zum Glück auch das Geburtsjahr des Kindermütter Clubs, dem sich Vickie dann auch rasch anschloss. Hier fand sie Freunde und lernte Dinge, die ihr im Alltag nützlich sind: Hygiene und Köperpflege für Babies, gesunde Ernährung und erste Hilfe, auch Schutz vor Aids. Die Schulungen und auch eine Sozialarbeiterin werden durch ein Programm von ECHO, dem Amt für humanitäre Hilfe der Europäischen Union, gefördert, das den Mädchen auch mit einem Startkapital für kleine Gewerbe unter die Arme greift.
Einmal in der Woche treffen sich die 35 Mitglieder, Mädchen mit ganz unterschiedlichen Geschichten und Leidenserfahrungen im Alter von 14 bis 19 Jahren, am liebsten im schattig-kühlen Klassenraum der Schule. Sie singen, tanzen und üben Theaterstücke ein, die sie dann bei öffentlichen Versammlungen vorführen. Sie wollen damit für Verständnis und für ein friedliches Zusammenleben werben. „Achtung vor Suggar-Daddys“ heißt eines ihrer neuesten Stücke. Es soll Mädchen aus dem Flüchtlingslager davor warnen, sich durch Geld oder Geschenke von Männern verführen und schwängern zu lassen.
Auf Bastmatten sitzend diskutieren die Kindermütter aber auch gern über alle möglichen Themen. „Wir sind wie eine Familie und das macht uns stark“, sagt eines der älteren Mädchen. Roselyn, die Sozialarbeiterin, kommt dazu und mischt sich hin und wieder sachte ein. „Ich versuche ihnen Selbstvertrauen zu geben und ihnen zu helfen, ihre Kinder anzunehmen, die ja eigene Individuen sind und nichts für ihre Herkunft können.“ Der Club hat diese Botschaft auch in seinem Namen aufgenommen – „Rwot Omiyo“ bedeutet „von Gott geschenkt“. Vickie, die üblem Gerede nach eigner Auskunft kein Ohr mehr schenkt, aber trotzdem noch unter ihrer Vergangenheit leidet, übersetzt „Rwot Omiyo“ für ihren eigenen Sohn in die schlichten Worte: „Ich will ihn beschützen, damit er ein besseres Leben hat als ich.“
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