"Naturkatastrophen und menschgemachte Krisen haben auf die betroffenen Menschen eine verheerende Wirkung. Für viele erhöhen sie die Gefahr, in Armut abzurutschen. Und mühsam erzielte Entwicklungsfortschritte werden in kürzester Zeit zunichtegemacht.
Katastrophenvorsorge ermöglicht es, die Auswirkungen auf die Bevölkerung zu reduzieren. Von Bedeutung ist, dass die lokale Bevölkerung und vor allem gefährdete Gruppen wie ältere Menschen oder Menschen mit Behinderungen aktiv eingebunden werden."
Martin Kunstmann arbeitet als Asienreferent bei der ASB Auslandshilfe für den Bereich Katastrophenvorsorge. Er hat mehr als 15 Jahre Arbeitserfahrung in den Bereichen Humanitäre Hilfe, Katastrophenvorsorge und Entwicklungszusammenarbeit.
Im Interview spricht er über die internationale Zusammenarbeit in Zeiten von Corona und erläutert, warum die Integration der lokalen Bevölkerung für den Erfolg von Katastrophenvorsorge entscheidend ist.
Aktion Deutschland Hilft: Herr Kunstmann, Sie arbeiten als Asienreferent bei der Auslandshilfe des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB). Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus?
Martin Kunstmann: Ich arbeite in der Zentrale des Arbeiter-Samariter-Bundes in Köln und koordiniere von dort unser Asienprogramm. Wir haben ein Regionalbüro in Indonesien und Partnerprogramme auf den Philippinen, in Nepal und Bangladesch. Meine Aufgabe besteht darin, gemeinsam mit den Partnern Hilfsprojekte strategisch und inhaltlich vorzubereiten.
Mein Schwerpunkt liegt dabei auf Projekten zur Katastrophenvorsorge. Ich reise auch regelmäßig in die Projektregionen, um mich mit den Mitarbeitenden zu treffen, den Kontakt zu den Partnerorganisationen zu halten und um mir selbst ein Bild von den Fortschritten und dem, was vor Ort passiert, zu machen.
Auslandsreisen sind seit Beginn der Pandemie kaum möglich. Wie gestaltet sich aktuell die Zusammenarbeit mit lokalen Partnern in den Projektländern?
Kommunikation war schon immer ein großer Bestandteil meiner Arbeit. Auch vor der Pandemie lief vieles über Videokonferenzen. Seit den Reisebeschränkungen hat sich die Frequenz, in der wir uns online austauschen, jedoch deutlich erhöht. Der Besuch vor Ort lässt sich damit natürlich nicht ersetzen. Es bleibt also eine Herausforderung, aber es ist gut, dass wir die Möglichkeit der Online-Kommunikation haben und sie verstärkt nutzen.
Über 15 Jahre sind Sie nun in der humanitären Hilfe tätig. Was begeistert Sie an Ihrer Arbeit?
Im Bereich der Katastrophenvorsorge finde ich es toll, zu sehen, wie man mit entsprechenden Maßnahmen Entwicklungsfortschritte langfristig sichern kann. Häufig machen Naturkatastrophen oder auch menschengemachte Krisen Entwicklungsfortschritte wieder zunichte. Wenn man aber sieht, dass die Menschen vor Ort aus eigener Kraft wieder auf die Beine kommen und resilient sind, und man dazu beigetragen hat – das ist sehr befriedigend.
In der humanitären Hilfe beeindruckt es mich immer wieder, wie man mit kleinen Mitteln einen großen Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation von Menschen leisten kann. Und da wäre noch der direkte Austausch mit den Menschen vor Ort, die verschiedenen Kulturen – das ist spannend und erfüllend.
Der ASB misst Katastrophenvorsorge schon seit Jahren große Bedeutung bei und zählt in Deutschland zu den Experten auf diesem Gebiet. Warum haben Sie diesen Schwerpunkt gewählt und wieso ist Katastrophenvorsorge so wichtig?
Ohne Katastrophenvorsorge würde man in einer Spirale aus Nothilfemaßnahmen enden. Wenn eine Region regelmäßig von Wetterextremen wie Starkregen oder Wirbelstürmen betroffen ist, wäre es extrem ineffizient, immer nur auf die Auswirkungen zu reagieren. Die nächste Krise würde den Fortschritt wieder zunichtemachen. Deshalb ist es wichtig, humanitäre Hilfe mit Katastrophenvorsorge und längerfristigen Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit zu verzahnen, um die Situation der Menschen dauerhaft zu verbessern.
Hat sich Katastrophenvorsorge in den letzten Jahren gewandelt?
Maßnahmen der Katastrophenvorsorge waren schon immer Bestandteil der Arbeit von Hilfsorganisationen. Ich denke aber, dass die Veröffentlichung des "Sendai Framework for Disaster Risk Reduction" – das globale Rahmenwerk der Katastrophenvorsorge – dem Ganzen einen deutlichen Schub gegeben hat. Daraufhin haben sich viele Organisationen dazu verpflichtet, mehr zur Katastrophenvorsorge beizutragen.
Auch auf staatlicher und auf zivilgesellschaftlicher Ebene ist die Bedeutung von Katastrophenvorsorge stärker ins Bewusstsein gerückt. Heute herrscht ein Konsens darüber, dass Vorsorge sein muss. In fast allen Ländern gibt es eigene Strategien. Jetzt kommt es darauf an, diese auf lokaler Ebene umzusetzen und die gesamte Bevölkerung miteinzubeziehen. Wenn man sie nicht schon in die Planung von Maßnahmen involviert, fehlen ihnen Informationen und sie können ihr Wissen nicht einbringen.
Bei der Jubiläumskampagne von Aktion Deutschland Hilft sind Sie Experte für Katastrophenvorsorgeprojekte im Bereich "Bildung und Wissen vermitteln". Wie sorgt man mit Bildung und Wissen vor?
Mit den richtigen Verhaltensweisen im Katastrophenfall kann ich Leben retten. Wenn ich weiß, wie ich mich im Ernstfall verhalten muss, kann ich mich und andere eher in Sicherheit bringen. Dieses Wissen kann man lernen.
Und wie?
Beispielsweise durch Schulungen oder Trainings oder mit Hilfe von Kampagnen, die für den Ernstfall sensibilisieren. Wichtig ist, dass das Wissen nicht theoretisch bleibt, sondern auch praktisch eingeübt und regelmäßig wiederholt wird. Nur so kann es im Katastrophenfall instinktiv abgerufen werden. Wenn es wirklich ernst wird, bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken. In Japan beispielsweise ist Katastrophenvorsorge fester Bestandteil von Lehrplänen. Schüler:innen lernen dort von klein auf, wie sie sich im Katastrophenfall verhalten müssen.
Erfolgreich Wissen vermitteln – das geht nicht ohne gute Kommunikation. Wie gelingt diese mit der lokalen Bevölkerung? Was muss man beachten?
Kommunikation ist sehr wichtig. Es kommt vor, dass Maßnahmen zur Katastrophenvorsorge nämlich an nicht adäquater Kommunikation scheitern. Wenn ich Menschen erreichen will, muss ich klar und verständlich kommunizieren – keine zu technischen oder abstrakten Begriffe benutzen und auf jeden Fall lokale Sprachen wählen. Die Wahl eines adäquaten Kommunikationskanals ist ebenfalls entscheidend. In manchen Regionen ist Radio ein viel genutzter Kanal. In anderen ist Radio nur bestimmten Bevölkerungsgruppen zugänglich.
Vor allem sollte man aber darauf achten, dass man auch Ältere und Menschen mit Behinderungen erreicht. Wenn ich beispielsweise jemandem mit einer visuellen Beeinträchtigung etwas vermitteln will, sollte ich Warnhinweise nicht nur auf Plakate drucken, sondern zusätzlich Audiokanäle wie Sirenen nutzen.
Indonesien gehört weltweit zu den Ländern, die am stärksten von Naturkatastrophen bedroht sind. Viele Vorsorgeprojekte der Jubiläumskampagne finden gezielt dort statt. Darunter auch eines vom Arbeiter-Samariter-Bund, speziell für Kinder. Wie bereiten Sie Kinder auf den Ernstfall vor?
Wir haben in der Vergangenheit bereits einige Projekte zur Katastrophenvorsorge an Schulen in Indonesien umgesetzt. Kinder und Jugendliche lernen schnell, sind offen für Neues und sehr erfolgreich darin, ihr Wissen an ihre Eltern und Freunde weiterzugeben. Wenn wir an Schulen arbeiten, bilden wir zunächst Lehrer:innen, Schulleiter:innen oder Vertreter:innen von Lehrerkomitees aus, die die Kinder und Jugendlichen unterrichten. Der Unterricht ist kindgerecht gestaltet. Wir vermitteln das Wissen zum Beispiel mit Hilfe von Quizspielen, Rätseln, Liedern und praktischen Übungen.
Wie sieht so eine praktische Übung aus?
Wenn es um das richtige Verhalten bei Erdbeben geht, vermitteln wir den Ansatz: "Drop, Cover and Hold On." Das heißt, im Erdbebenfall gehe ich erstmal zu Boden, um durch die Schwankungen nicht umgeworfen zu werden. Anschließend suche ich zum Beispiel unter einem Tisch Schutz vor herabfallenden Gegenständen. Außerdem halte ich mich am Tischbein fest, weil sich Gegenstände im Raum bewegen könnten.
Dieses Verhalten wird verinnerlicht, indem man es regelmäßig im Unterricht simuliert. Hinzu kommt anderes wichtiges Wissen: Was gibt es für Warnsignale an meiner Schule? Bei welchem Alarm suche ich erstmal Schutz im Klassenzimmer? Welches Signal sagt mir, dass die Schule evakuiert wird?
Welche Rolle nimmt die lokale Bevölkerung noch ein? Die Menschen sind bestimmt nicht nur Lernende, oder?
Bei der Umsetzung von Katastrophenvorsorge spielt die lokale Bevölkerung eine zentrale Rolle. Die Menschen sind die Expert:innen für ihre Situation. Es ist nicht so, dass wir von außen kommen und alles ins Land reintragen. Es ist ganz wichtig, dass die Verantwortung auf lokaler Seite verbleibt. Durch unsere Arbeit stärken wir vorhandenes Wissen und lokale Kapazitäten und bauen diese gemeinsam mit den Menschen aus.
Vielfach treten wir dabei nur als Vermittler auf und bringen verschiedene Gruppen zusammen – zum Beispiel nationale Behörden und die kommunale Verwaltung. Wir arbeiten außerdem sehr eng mit Vertreter:innen gefährdeter Bevölkerungsgruppen zusammen. Gemeinsam wollen wir erreichen, dass zum Beispiel die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und Älteren gehört und sie aktiv in Prozesse eingebunden werden.
Statistiken haben gezeigt, dass Menschen mit Behinderungen im Katastrophenfall besonders gefährdet sind. Warum ist das so?
Körperliche oder kognitive Einschränkungen hindern Menschen mit Behinderungen – und auch ältere Menschen – oftmals daran, im Katastrophenfall richtig zu reagieren. Sie hören beispielsweise die Sirene nicht, sehen die Warnhinweise nicht gut oder schlimmer: Evakuierungswege sind nicht barrierefrei. Dadurch bleiben diese Menschen im Katastrophenfall vulnerabel. Deshalb ist es in der Vorsorge so wichtig, Maßnahmen und Strategien zu entwickeln, die alle Bevölkerungsgruppen einschließen.
Aktuell werden ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen noch zu wenig aktiv in die Planung und Umsetzung von Maßnahmen eingebunden. Das kann dazu führen, dass ihren Bedürfnissen nicht Rechnung getragen wird. Dabei sind sie die wahren Expert:innen dafür, wie inklusive Katastrophenvorsorge funktioniert. Es gibt einen Leitsatz in der Inklusion: Nichts über uns ohne uns. Das gilt auch in der Katastrophenvorsorge.
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