Ziel: ein friedliches Zusammenleben ermöglichen
800.000 Menschen starben durch den Völkermord, der vom 7. April bis zum 4. Juli 1994 in Ruanda stattfand. Die meisten Ermordeten waren Tutsi, die zur Minderheit im Land zählten. Die Täter stammten aus der Bevölkerungsgruppe der Hutu, der damals ca. 85 Prozent der Ruander angehörten. Seitdem steht das Land zum einen für ein immenses Zivilisationsversagen, denn der Völkermord hätte, wäre das Ausland rechtzeitig aktiv geworden, zum großen Teil verhindert werden können. Zum andern für einen völlig neuen Versuch, die Folgen des Völkermords für die Überlebenden, für die Täter, ja für die gesamte ruandische Gesellschaft in einer Weise aufzuarbeiten, die ein künftiges friedliches Zusammenleben möglich macht.
Ruanda ist heute befriedet
Wie es um die durch Ruanda aufgeworfene zivilisatorische Forderung heute steht, ist noch immer eine offene Frage. Gleichwohl bietet die schnelle Reaktion Europas auf die Genozidgefahr in der Zentralafrikanischen Republik begründeten Anlass zur Hoffnung. Anders sieht es aus, wenn man auf Ruanda selbst schaut. Darauf, wie sich das Land in den letzten zwanzig Jahren entwickelt hat. Hier ist eindeutig feststellbar, dass die ruandische Gesellschaft der Gegenwart befriedet ist. Gewaltsame Konflikte gibt es zwischen Hutu und Tutsi nicht mehr. „Wir sind alle Ruander“ lautet schon seit Jahren die offizielle Devise.
Das „Singapur Afrikas“
Hinzu kommt, dass das Land einen bemerkenswerten Modernisierungsschub erlebt hat. Straßen wurden gebaut, die Kommunikationswege verbessert, Versicherungen wie beispielsweise eine Kranken- oder Rentenversicherung eingeführt. Die Wirtschaft wuchs jährlich, das Investitionsklima ist, dank einer effektiven Korruptionsbekämpfung, gut. Das „Singapur Afrikas“ soll Ruanda einmal sein, und selbst dem ersten Besucherblick erschließt sich, dass tatkräftig am Umbau Ruandas zu einer Dienstleistungsgesellschaft gearbeitet wird. Bürogebäude, Konferenzzentren und Bildungseinrichtungen prägen das Bild vieler Städte, vor allem der Hauptstadt Kigali.
Ein konstruktiver Versöhnungsprozess
Fragt man Regierungsvertreter nach den Gründen für die Transformation eines von ethnischem Hass zerrissenen Landes hin zu einem Modell für ein modernes Afrika, fällt immer wieder ein Begriff. „Gacaca“ (Gatschatscha) habe die Voraussetzungen für einen Versöhnungsprozess geschaffen, heißt es. Gemeint ist damit jene Form der traditionellen Justiz, die zwischen 2002 und 2012 zur Ahndung der Völkermordverbrechen reaktiviert wurde. Am Ort der Verbrechensbegehung, unter dem Vorsitz von Laienrichterinnen und –richtern, ohne Anklagevertretung oder Verteidigung, nur unter Beteiligung der lokalen Bevölkerung, sollten Täter und – in jedoch deutlich geringerer Zahl – Täterinnen abgeurteilt werden. Ziel war nicht in erster Linie die Bestrafung für das begangene Unrecht, Ziel war vielmehr die Wiederherstellung des sozialen Friedens.
In aller Öffentlichkeit, das heißt vor den Augen derer, die gesehen haben, was 1994 geschehen war, sollten die Täter ihre Taten gestehen, bereuen und bei den Überlebenden um Verzeihung bitten. Waren Geständnis und Reue glaubhaft, wurde Verzeihung gewährt und die Strafe wurde erheblich gemildert. Selbst für mehrfachen Mord war dann eine Freiheitsstrafe von unter zehn Jahren möglich, die zudem teilweise durch Ableistung gemeinnütziger Arbeit verbüßt werden konnte. Nur wenn der Täter oder die Täterin wenig oder gar keine Einsicht in ihr vergangenes Tun zeigte, stieg die Freiheitsstrafe, unter Wegfall von Erleichterungen bei der Strafverbüßung, bis zu einer lebenslangen Dauer.
Insgesamt führten die etwa 13.000 Gacaca-Gerichte annähernd eine Million Verfahren durch. Die große Mehrheit betraf Plünderungen oder Zerstörung von Eigentum. Anklagen wegen Mord, Totschlag oder Körperverletzung machten nicht ganz ein Drittel aus. Fünfzehn Prozent der Angeklagten wurden freigesprochen. Von den Verurteilten sitzen heute „nur noch“ ungefähr 40.000 in Haft, auch das ein Zeichen der konstruktiven Versöhnungsangebote der Gacaca-Justiz.
Die „Ruandische Patriotische Front“
Und dennoch bleibt ein Unbehagen, ein sehr ausgeprägtes sogar. Es gründet weniger auf der Skepsis, ob Versöhnung oder auch nur die verifizierbare Annäherung an dieses Ziel im Zeitraum von zwanzig Jahren überhaupt möglich sind, oder ob die Gacaca-Verfahren nicht zu viele Zweifel weckende Unschärfen aufweisen. (Wann ist ein Geständnis aufrichtig? Will der/die Überlebende tatsächlich verzeihen?)
Nein, das Unbehagen bezieht sich auf das Bild, das durch diese Prozesse gefestigt worden ist, ein Bild, das angeblich in bedrückender Einseitigkeit Vorgeschichte, Verlauf und Folge des Völkermords darstellt. Keine Rede, so klagt die Hutu-Mehrheit, sei in den Prozessen von den Verbrechen der siegreichen und bis heute die Politik des Landes bestimmenden Rebellenbewegung „Ruandische Patriotische Front“ gewesen. Dabei dürfte die Zahl ihrer Opfer bei Zehntausenden, vielleicht sogar bei Hunderttausenden liegen.
Das Wohl aller Einwohner im Blick
Außerdem sind die Hutu Ruandas kollektiv als Täter bezeichnet worden, was nachweislich unzutreffend sei. Die meisten Überlebenden seien von Hutu gerettet worden. Das werde auch von den Überlebenden bestätigt. Und schließlich zeige sich eine besonders nachhaltige Konsequenz dieser einseitigen Justiz, die auch „Siegerjustiz“ genannt werden könne, darin, dass Hutu im aktuellen Ruanda benachteiligt würden. Der wirtschaftliche Fortschritt gehe an ihnen größtenteils vorbei, gut bezahlte Stellen bekämen nur Tutsi, in Verwaltung und Staat seien sie ebenfalls tonangebend.
Übertreibungen? Grundloses, gefährliches Lamento Ewiggestriger? Nein, eher das Gegenteil. Beim zweiten, genaueren Blick fällt auf, dass sich die „Ruandische Patriotische Front“ des damaligen Rebellenführers und heutigen Staatspräsidenten Paul Kagame tatsächlich sehr resolut des ruandischen Staates bemächtigt hat. Dass sie dabei das Wohl aller Ruanderinnen und Ruander im Blick hat, wollen wir gerne glauben. Doch ist die Janusköpfigkeit der aktuellen Situation gleichfalls nicht zu ignorieren.
Dr. jur. Gerd Hankel ist Völkerrechtler und Sprachwissenschaftler sowie Gastwissenschaftler der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur am Hamburger Institut für Sozialforschung.
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