Heinz-Hartmut Wilfert, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit von ADRA Deutschland e. V., gibt im folgenden Interview einen in die Tiefe gehenden Einblick in die Erfordernisse des Themenfelds der Nahrungsmittelverteilung.
Nahrungsmittelverteilung
Um bei Katastrophen den Menschen schnell und direkt helfen zu können, muss die Nahrungsmittelverteilung nicht nur logistisch optimal organisiert sein, sie erfordert darüber hinaus viele grundsätzliche Überlegungen und Entscheidungen.
Wie erfolgt die Einschätzung, ob Nahrungsmittel verteilt werden sollen?
Ob Nahrungsmittel verteilt werden sollen, ist im Fall einer plötzlich hereinbrechenden Großkatastrophe meistens keine Frage. Die Menschen stehen unter Schock, ob sie nun ein Erdbeben, eine Überschwemmung, eine Feuersbrunst oder „unmenschliche“ Gewalt erlitten haben. In der Regel reagieren die Opfer auf zwei Arten: Panikartige Flucht oder krampfhaftes Verharren am Ort des Geschehens. Die am schlimmsten betroffenen Überlebenden haben Haus, Hab und Gut jedenfalls verloren und sind auf schnelle Hilfe angewiesen. Psychisch wären zudem viele nicht in der Lage, eine Mahlzeit zu bereiten. Mit dem Hunger bricht dann eine zweite Katastrophe aus – ganz unabhängig davon, ob ein Individuum sich resignierend verkriecht oder aber „zum Tier“ wird. Die geschwächten Hungernden sind gesundheitlichen Gefahren besonders ausgesetzt. Daher besteht auch stets Seuchengefahr.
Welche Nahrungsmittel sollen verteilt werden?
Grundsätzlich gilt: Solche, die den Menschen bekannt sind, die zu essen sie gewohnt sind und deren Zubereitung ihnen vertraut ist. Das gilt auch für die Beschriftungen auf Behältern und Verpackungen. Diese müssen lesbar und verständlich sein. Ansonsten müssen wir auch hier ganz unterschiedliche Maßnahmen ergreifen:
a) Die schnelle Hilfe nach einer Katastrophe muss dafür sorgen, dass Hunger und Hungerkämpfe, Plünderungen und Übergriffe vermieden werden. Da bei Naturkatastrophen – je nach geographischer Ausdehnung und Schwere – die lokale oder regionale Infrastruktur zusammengebrochen oder beschädigt ist, kann und muss diese Hilfe von außen kommen. Dabei denken wir nicht zuerst an das „Ausland“, sondern zunächst sind die nicht betroffenen Regionen in direkter Nachbarschaft als erste Helfer herausgefordert. Sie sind dem Ort des Geschehens am nächsten, kennen Land, Leute, Sprache und Kultur am besten und sind auch am besten geeignet, menschlichen Beistand zu leisten, Trost zu spenden und später bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse therapeutische Hilfe zu spenden.
Bezüglich der Bereitstellung von Nahrung sind auch sie die erste Wahl, denn sie müssen die Menschen solange über Notküchen versorgen, bis zum Beispiel Kocher, Kochgeschirr und Zubehör samt Nahrung verteilt worden sind. Tritt allerdings der Fall ein, dass in der Nachbarschaft gar keine Einrichtungen der Hilfe bestehen, keine Helfer vorbereitet sind oder die benachbarte Bevölkerung selbst bei bestem Willen nicht in der Lage ist, Hilfe zu bringen, dann muss der Hilferuf in einem größeren Radius verbreitet werden.
b) Wenn Nahrungsmittelhilfe längerfristig notwendig ist – zum Beispiel bis zur nächsten Ernte nach einer Trockenzeit oder in einem Flüchtlingslager, das ohne Anschluss an eine benachbarte Stadt isoliert ist – stellt sich die Frage nach der Ausgewogenheit der Nahrung ernsthafter. Die Vereinten Nationen haben in ihren Organisationen wie zum Beispiel dem WFP (World Food Programm) oder UNHCR (UN Commission on Human Rights, der Hohe Flüchtlingskommissar) und FAO (Food and Agriculture Organization) klare Anweisungen zur menschlichen Ernährung gegeben, die auch für die Zusammenstellung der Nahrungsmittel durch die Hilfsorganisationen verbindlich sind. Auf europäischer Ebene hat das „Sphere-Project“ ebenfalls minimale Standards bezüglich der Ernährung (Kapitel 3) und der Nahrungsmittelhilfe (Kapitel 4) sehr ausführlich und auf Grundlage der UN -Dokumente erarbeitet. Sie sind als Richtschnur gemeinsam mit Hilfsorganisationen gestaltet worden und heute allgemein akzeptiert.
Welche konkreten Nahrungsmittel werden verteilt?
Nach den beschriebenen Grundsätzen werden angepasst an die jeweiligen Bedingungen hauptsächlich Getreide, Reis, Mehl, Bohnen, Öl, Salz, Sojabohnen und diverse Konserven verteilt.
Welche Auswahlkriterien gibt es, wer welche Nahrungsmittel bekommt?
Auch hier reden wir im ADH-Zusammenhang vor allem von Katastrophen-Situationen: Tatsächlich kann die Nahrungszuteilung schon bald nach der ersten Hilfsphase nicht für alle in der gleichen Weise durchgeführt werden. Wir haben klare Kriterien – das sind einmal Kleinkinder, Kinder, stillende Mütter, Schwangere, alte, kranke, behinderte Menschen – dabei beachten die Helfer Krankheiten (z.B. AIDS), aber auch den Ernährungszustand. Bei Mangelernährung muss der Patient, wie der Mensch in dem Fall ja bezeichnet werden kann, mit ergänzenden Nahrungsmitteln wieder zu Kräften gebracht werden.
Worauf muss geachtet werden?
Ganz wesentlich ist, dass die Ausgabe von Nahrungsmitteln bestens organisiert und übersichtlich abläuft. Das bedeutet gerade in kritischen Situationen:
- gesicherte Lagerung der Vorräte,
- kontrollierter Zugang der Empfänger,
- Erfassung der Namen der berechtigten Hilfe-Empfänger,
- Ausgabe von Ausweisen oder Bezugsscheinen,
- Ausgabe-Listen, auf denen der Empfang bestätigt wird – aber auch:
- Klarstellung, dass es sich nicht um eine einmalige Aktion handelt,
- Vorhandensein von ausreichend Nahrung für alle,
- Möglichkeit, an dem angegebenen Tag wieder her kommen zu können,
- Bereitliegen von Verpackungen für einige Produkte , damit diese auch transportiert werden können,
- Bereitstellung von ausreichend Personal für die Bewältigung dieser Aufgabe ist.
In der Vorbereitung ist es besonders wichtig, die einheimischen Autoritäten – falls vorhanden oder greifbar – bei den Planungen und bei der Erfassung mit einzubeziehen. Als empfehlenswert hat es sich zudem erwiesen, auch möglichst schnell einheimische Kräfte in die Durchführung der Verteilung zu integrieren. Meist beginnt auch an dieser Stelle ein erstes „Food-For-Work-Programm“, das dann später ausgeweitet werden kann.
Gibt es Kalorienvorgaben o.ä.?
Wie schon oben angesprochen, hat die WHO (1997, draft) und WFP/UNHCR (1997) im „Anhang 4“ konkrete Nahrungsanforderungen festgelegt, wie sie in der Phase der ersten Hilfe angewendet werden sollen. Der Brennwert ist dort mit 2100 kcal pro Tag festgelegt. Auch in den Richtlinien und Minimum-Standards des „Sphere Projects“ befinden sich Checklisten, die ernährungsbedingte Vorgaben detailliert aufführen.
Inwieweit unterscheiden sich die auszugebenden Nahrungsmittel von Katastrophe zu Katastrophe?
Die Katastrophen selber bewirken keine großen Unterschiede, eher die lokalen Gegebenheiten und Essgewohnheiten der Menschen. Allerdings gibt es bisweilen Situationen, in denen diese Speisegewohnheiten mittelfristig geändert werden sollten oder müssten. Beispiele hierfür sind: Andauernde Überweidung von Flächen zur Fleischproduktion, die Belastung des Grundwassers durch Fäkalien der Tiere und die Überlastung von Anbauflächen durch eine Auswahl von Pflanzen, die für den vorhandenen Boden nicht geeignet sind. Ich denke hier zum Beispiel an die Sandböden in Mosambik, die nicht in der Lage sind, das wenige Wasser zu halten, um Mais anzubauen. Dennoch wird es dort immer wieder versucht, mit der Folge, dass Mangelversorgung auftritt. Hier wäre es unklug, in der Nahrungsmittelhilfe Mais zu verteilen, weil damit die Nachfrage gesteigert und die nächste Katastrophe begründet würde.
Wie lang sollte eine Verteilung andauern?
So kurz wie nur irgendwie möglich und so lange, bis eine Eigenversorgung (food security) wieder hergestellt ist. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass man bei der Verteilung der Nahrungsmittel möglichst schnell von Ausgabestellen der Hilfsorganisationen wegkommt. Es ist besser, die einheimischen Verteilstrukturen schnellstens wieder funktionstüchtig zu machen, damit diese nicht in den Bankrott gehen müssen. Das gilt übrigens auch für Medikamente, bzw. Apotheken. Die Einbindung der katastrophengeschädigten Bevölkerung in die Wiederaufbaumaßnahmen hat viele Vorteile. Erstens können sie sich durch ihre Mitarbeit ihr Geld verdienen. Zum zweiten werden sie zahlende Kunden, welche die wirtschaftlichen Prozesse wieder in Gang bringen. Und drittens hilft ihnen diese Mitarbeit bei der psychischen Verarbeitung des Geschehens.
Welche Schwierigkeiten können auftreten?
Ich kann hier nur aus den hunderttausend möglichen Zwischenfällen und Schwierigkeiten einige herausnehmen, die ich selber beobachtet und erlebt habe:
Die meisten Probleme resultierten nicht aus der schlechten Organisation oder der Arbeit unfähiger Helfer, sie entstanden aus schlichten „menschlichen“ Eigenschaften. Diese treten unter extremen Belastungen in erstaunlicher Weise zutage, denn in der Angst – und es geht hier um existenzielle Angst, um das Überleben angesichts vieler Toten – reagiert der Mensch panisch - instinktiv - „urtümlich“ - „kulturbefreit“. Diese Unberechenbarkeit lässt ihn über andere herfallen, lässt ihn rauben, plündern, morden. Das bedeutet, dass auch die Helfer gefährdet sind. Nichts erscheint mir so falsch, wie das romantische Bild vom armen, am Boden liegenden Opfer, das mit letzter Kraft den Arm ausstreckt, um eine Zuwendung vom großzügigen, „heldenhaften Helfer“ entgegen zu nehmen. Ich sage damit nicht, dass ich nicht tausende solcher Erbarmungswürdigen gesehen habe, die von ihren stärkeren Leidensgenossen niedergetreten, in die Gosse gestoßen, ihrer Nahrungsration beraubt und verjagt wurden. Aber das vorherrschende Klima ist Angst, Rücksichtslosigkeit, Gewalt und das Festklammern am eigenen Leben. Wer jemals Szenen beobachtet hat, die sich unter denen abspielen, die vom fahrenden Lastwagen abgeworfene Hilfsgüter zusammenraffen, der kann ahnen, wovon ich hier schreibe.
Wie wird bei der Verteilung die Sicherheit gewährleistet?
Die Frage der Sicherheit beginnt sofort mit der Entscheidung, dass wir in einen Einsatz gehen. Dazu gehört zunächst einmal eine Abstimmung mit der Regierung des betroffenen Landes. Weiterhin ist die Zusammenarbeit mit den verantwortlichen Ministerien und Dienststellen in Deutschland und im Einsatz-Land zu klären. Auch mit den NGO’s (Nichtregierungsorganisationen) hier und dort sind enge Absprachen essenziell. Eine Einbindung der regionalen und lokalen Autoritäten (Clan-Leader / Clan-Elder) hat ebenfalls einen nicht zu unterschätzenden Effekt auf die Sicherheit – sie können bisweilen auch selbst für Sicherheit sorgen. Bei Naturkatastrophen sind meist diese Strukturen noch intakt und anerkannt. Politische Unruhen, offener Terror und Bürgerkriege sind jedoch viel schwieriger zu meistern. Hier geraten die Helfer schnell in die Gefahr, dass man ihnen Parteilichkeit vorwirft und sie zwischen die Fronten geraten. Es ist kein Geheimnis, dass solche extremen Situationen eine geordnete Verteilung völlig unmöglich machen können. Und wenn es mir auch nicht gefällt, es erinnern zu müssen: Ohne die Unterstützung militärischer Kräfte oder bewaffneter Polizei wäre es mancherorts niemals zu einer Verteilung gekommen.
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