Dr. Bärbel Kofler, MdB, ist seit März 2016 als Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Amt. Damit verbunden hat sie die Schirmherrschaft der Initiative #CSRhumanitär übernommen, die sie sich mit Michael Brand MdB (Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe) teilt. Im Interview mit Marion Michels erklärt Dr. Bärbel Kofler, welchen Mehrwert die Wirtschaft für die Humanitäre Hilfe leisten kann.
1. Humanitäre Krisen und Katastrophen haben in den letzten Jahrzehnten an Häufigkeit, Komplexität und Schwere zugenommen. Wie können Partnerschaften zwischen humanitären Akteuren und der Wirtschaft dazu beitragen diesen globalen Herausforderungen zu begegnen?
Wenn wir an die Zahl von 65 Millionen Menschen auf der Flucht weltweit denken, aber auch an die Finanzierungslücke von zuletzt 15 Milliarden US-Dollar zwischen dem humanitären Bedarf und den tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsgeldern, wird klar, dass diese Herausforderungen nicht nur von einem Teil der Welt alleine gemeistert werden können. Die Staaten sind natürlich zuvorderst in der Verpflichtung, aber auch die Wirtschaft hat Kenntnisse und Möglichkeiten zu unterstützen. Ich denke dabei an Bereiche wie Telekomunikation, Logistik, aber auch medizinische Versorgung, in denen die Bereitschaft der Wirtschaft zu helfen wichtig ist und man einen absoluten Mehrwert durch die Zusammenarbeit erzielt. Es gibt sicherlich eine Reihe von Möglichkeiten, wie man dem gestiegenen Bedarf an humanitärer Hilfe gemeinsam besser gerecht werden kann.
2. Vielfach leisten Unternehmen schon heute einen wertvollen Beitrag als Partner der Humanitären Hilfe. Die wachsende Anzahl von Akteuren beeinflusst die humanitäre Landschaft. Sie bringt zusätzliche Mittel, verändert aber auch die Art und Weise, wie die humanitäre Gemeinschaft plant, koordiniert und reagiert. Was ist nötig, um dieser Entwicklung gerecht zu werden?
Ganz wichtig dabei sind die humanitären Prinzipien z.B. das Gebot der Neutralität, die Unparteilichkeit und die humanitäre Pflicht, jedem nach seiner Bedürftigkeit zu helfen. Um die Wichtigkeit der Prinzipien zu betonen, hat sich die Bundesregierung auf dem humanitären Weltgipfel in Istanbul erneut zur Einhaltung und Stärkung der humanitären Prinzipien verpflichtet. Wir wollen dieses Wissen über humanitäre Prinzipien der Wirtschaft nahebringen und mit allen beteiligten Akteuren im Rahmen eines Kommunikations-und Dialogprozesses teilen.
3. Inwiefern ist die Humanitäre Hilfe ein Teil des unternehmerischen Verantwortungskonzepts?
Ich persönlich glaube, dass es jedem Menschen ein Bedürfnis ist, an der positiven Gestaltung der Welt teilzuhaben. Das gilt sicher auch für die meisten Unternehmen. Wenn man in bestimmten Ländern arbeiten, produzieren oder Produkte verkaufen möchte, dann ist ein stabiles Umfeld, in dem sich die Menschen frei entfalten und sicher leben können, auch für die Wirtschaft wichtig. Außerdem spielt das ethische Verhalten von Unternehmen zunehmend eine Rolle für die Motivation der eigenen Mitarbeiter. Unternehmerisches Engagement ist sicher nicht immer altruistisch, sondern auch eine Imagefrage.
Wenn man über die Humanitäre Hilfe hinausdenkt, unterhalten wir uns über das Thema „Wirtschaft und Menschenrechte“ und wie Unternehmen im Rahmen ihrer globalen Verantwortung zu einer Form von Krisenprävention beitragen. Die Achtung der Menschenrechte spielt eine entscheidende Rolle, wenn wir wollen, dass sich dieser Planet in eine friedliche Richtung entwickelt. Dies ist auch eine Voraussetzung, um vernünftige wirtschaftliche Prozesse voranzutreiben. Vor diesem Hintergrund hat die Wirtschaft sicher ein elementares Interesse daran, sich zu engagieren. Der „Nationale Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte“ der Bundesregierung wird hier eine wichtige Funktion einnehmen.
4. Welchen Beitrag können Unternehmen im Rahmen der Humanitären Hilfe konkret leisten?
Zum einen sehe ich Möglichkeiten in der Logistik oder im Kommunikationsbereich sowie durch Finanzmittel oder Sachspenden. Außerdem haben global agierende Firmen oft über ihre internationalen Partnerunternehmen gute Netzwerke im Ausland, etwa für den Bezug von Waren oder Dienstleistungen. Wir sollten darüber nachdenken, wie man diese lokalen Kräfte zur Unterstützung der Humanitären Hilfe einbeziehen kann,– natürlich unter dem Gebot der humanitären Prinzipien.
5. Welcher Mehrwert („Shared value“) ergibt sich daraus für Wirtschaft und Gesellschaft?
Der Mehrwert entsteht vor allem durch den wechselseitigen Wissenstransfer. Einerseits von zivilgesellschaftlicher oder staatlicher Seite darüber, wie man bedarfsgerecht und effizient Humanitäre Hilfe - unter Achtung humanitärer Prinzipien - leistet. Zum anderen können Unternehmen viel fachliche und technische Expertise einbringen oder Wissen über Strukturen vor Ort. Ich glaube, dass es für eine Unternehmenskultur auch sehr positiv ist, wenn man sich für den Schutz der Menschen einbringt – nicht nur in Hinblick auf die Mitarbeiter, sondern auch wie sich ein Unternehmen in der Öffentlichkeit darstellen kann.
6. Gibt es Schwachstellen im humanitären System, die durch neue Partnerschaften und Akteure in der Humanitären Hilfe angegangen werden können?
Die größte Schwachstelle ist der große humanitäre Bedarf, der nicht gedeckt ist, und damit eng verbunden die Unterfinanzierung im humanitären Bereich. 65 Millionen Menschen sind auf der Flucht; viele sind auf Humanitäre Hilfe angewiesen. Deshalb ist die entscheidende Frage: Wie können wir humanitäre Krisen vermeiden? Denn die beste Humanitäre Hilfe ist die, die man gar nicht erst leisten muss, weil es nicht zu einer humanitären Krise kommt.
Unternehmen spielen bereits heute im Bereich der Krisenprävention eine große Rolle. Außerdem kann die Wirtschaft bei der Stützung lokaler Strukturen und Märkte helfen, z. B. indem sie Perspektiven durch Ausbildungsangebote gibt.
7. Die von den Vereinten Nationen verabschiedeten „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ (SDGs) prägen die aktuelle Nachhaltigkeitsdebatte auf nationaler und internationaler Ebene. Gibt es Ziele, die eine besondere Relevanz für die Humanitäre Hilfe haben?
Grundsätzlich stellt jedes Ziel, das sich mit Krisenprävention beschäftigt, eine massive Unterstützung für die Humanitäre Hilfe dar. Ferner befasst sich Ziel 6 mit der Frage der Trinkwasserversorgung. Ich konnte mir jüngst in Äthiopien persönlich einen Eindruck davon verschaffen, wie elementar dies ist. Viele Menschen in der Afar-Region müssen über Tankwagen mit frischem Trinkwasser versorgt werden.
Ziel 8 behandelt nachhaltige Konsummuster und menschenwürdige Arbeit. Das würde ich auch als eine Frage der Humanitären Hilfe betrachten, die langfristige Hilfe und Prävention mit einschließt. Auch Ziel 9 mit dem Aufbau einer belastbaren Infrastruktur ist relevant: Humanitäre Hilfe muss die Menschen erreichen können. Ich denke z. B. an die letzte Ebola-Epidemie und die Frage, wie das medizinische Personal überhaupt zu den Bedürftigen gelangt.
Und die „Bekämpfung der dringendsten Folgen des Klimawandels“ (Ziel 13). Wir hatten dieses Jahr massiv mit den Folgen von El Niño zu tun, also Katastrophen, die ganz klar wetterinduziert sind. Und wenn man sich ansieht, in welchen Teilen der Erde die Flussläufe austrocknen oder über die Ufer treten, was wieder zu humanitärenm Krisensituationen führt, unterstreicht dies noch einmal, wie entscheidend dieses Ziel ist. „Friedenssicherung und Stabilität“ (Ziel 16) erschließt sich ganz von allein: Die zivile Friedensprävention ist maßgeblich, um zukünftige Hilfseinsätze nicht nötig zu machen. Wir haben jetzt 14 Jahre um zu agieren und das müssen wir auch tun.
8. Ein weiteres wichtiges Thema des ersten „World Humanitarian Summit“ in Istanbul war das Spannungsfeld zwischen Humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Wie sehen Sie dieses Thema?
Ich kann verstehen, dass es von Seiten der Humanitären Hilfe die Sorge gibt, dass die humanitären Prinzipien zunehmend aufgeweicht werden. Doch diese machen Humanitäre Hilfe oft erst möglich! Entwicklungszusammenarbeit hat logischerweise andere Zielvereinbarungen.
Dieses Spannungsverhältnis kann ich verstehen, ich glaube aber, dass wir zu einer Lösung kommen müssen. Insbesondere in Fragen der Prävention und Katastrophenvorsorge kann man eine ganze Menge tun, noch bevor eine Katastrophe oder ein Konflikt ausbricht. Dann wird man in der Praxis die unterschiedlichen Instrumente der Humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit nutzen , denn beide Systeme haben ihre Berechtigung und wir müssen darüber reden, wie Humanitäre Hilfe in langfristige wirtschaftliche Aufbauarbeit übergehen kann.
Diese Frage wird sich in einer Post-Konfliktsituation auch immer stellen. Ich denke dabei z. B. an Flüchtlingslager, die teilweise über Jahrzehnte bestehen, und wo es sich nicht mehr nur um Humanitären Hilfe handelt, sondern um grundsätzliche Versorgung, eingebettet in die Strukturen der Aufnahmeländer. In Hinblick auf politische Fragilität ist es sicher auch eine Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit, Staatlichkeit zu stützen.
9. Gibt es konkreten Handreichungen für unternehmerisches Engagement in der Humanitären Hilfe?
Im Rahmen des Dialogprozesses der Initiative #CSRhumanitär, der von Aktion Deutschland Hilft vorangetrieben wird, soll ein Leitfaden entwickelt werden, damit Unternehmen eine Handreichung erhalten. Das ist Teil der Initiative. Der Prozess ist im letzten Dezember ins Leben gerufen worden und es gibt dazu bereits unterschiedliche Arbeitsgruppen.
10. Wie sehen die nächsten Schritte der Initiative #CSRhumanitär aus?
Die Initiative #CSRhumanitär wird weiterhin den fachlichen Austausch zwischen Hilfsorganisationen und Unternehmen durch Dialogveranstaltungen und Trainings unterstützen, um das gemeinsame Lernen von Wirtschaft und humanitären Akteuren und deren Partnerschaften zu fördern.
Herzlichen Dank für das Interview.